Von Jean Paul an Christian Otto. Schwarzenbach a. d. Saale, 12. Dezember 1791.
Brieftext
Ein Rezensent verstekt seine Untüchtigkeit zu 1) loben und zu
2) tadeln unter seine Anonymität und geht mit Ehren davon —
gleich
wol wil ich beides thun. —
Schiller hat eine ganze Geschichte, du blos
ein Stük, er hat ein Gewebe, du einen Faden, er hat die Wahl,
wie er
die Fülle 1 Zeitraums aufstellen wil, du hast die, wie
du Zeiträume ordnen
wilst, die sich schon selber ordnen. Ein
geschikter Romanschreiber kent
diesen Rangstreit der
Begebenheiten ganz, er hilft sich aber so, daß er
schliest: „es giebt keinen andern Rechtsgrund der Ordnung als das
Interesse deiner Leser; dieses Interesse hat den seinigen
wieder in nichts
als in der Schwierigkeit, die du ihm zeigst
und auflösest; wenn also von
2 Faktis das eine die Frage, das
andre die Antwort ist: so können diese
2 Fakta nicht besser
geordnet [werden].“ Nicht blos das
Interesse eines
Schauspiels, sondern auch das einer
Untersuchung, des Styls, eines
Perioden beruht auf diesem
immerwährenden transzend[enten] Knötgen
knüpfen und aufbinden. — Um so eine Schwierigkeit zu finden,
muß
der Autor im Nachfolgenden nachsuchen um das Vorhergehende
darnach zuzuschneiden — er kan nicht genug von hinten nach
vorn ar
beiten. — Die Schwierigkeit, wie
drei so verschiedene Menschen Arten
— Römer, Barbaren und
Christen — sich koagulieren oder scheiden
werden — Oszillieren des Wagbalkens, an dessen einem Pol der
Staat und an dessen anderm die Kirche hängt.Du must das Medium, wodurch der Leser die Hauptsache sieht, verdünnen
und verkleinern: sonst lieferst
[du] stat eines Profils ein Kniestük
und jede Be
stimmung zerfasert sich in
Unterbestimmungen. Diese Kardinalregel Voltaires
„man muß nicht alles sagen“ kent und achtet und
verlezt niemand mehr als der, der
ihr zu Gefallen eine so
lange Note gemacht.
— [Das] Resultat
muß vor dem Beweise
[stehen]. — Im Grund, wenn ich mich an
den
Eindruk deiner Aequazions Geschichte erinnere, besonders
daran, wie die
kleine Quelle einen zulezt mit 100
zusammenrinnenden Bächen ergreift
und hinreisset und wie der
Enthusiasmus gegen das Ende den Leser so
gut wie den Verfasser
hebt: so solt’ ich mich nicht zwingen, deinen
partheiischen Tadel zu meinem zu machen. Deine Abhandlung wird
wie ihr Geburts Jahrhundert gegen ihr Ende am fruchtbarsten und
neuesten. Ich wolte, ich wäre der gröste lebende Historiker, um
dich in
meiner Nachahmung durch etwas stärkeres als durch
meinen Wunsch
zu befestigen — weil die Geschichte mit deiner
fast dominierenden
Neigung zur Menschenkentnis in der
nüzlichsten Harmonie zusammen
kömt und weil
die Geschichte unter [die] Wissenschaften
gehört, in der
[!] die meisten andern wie die meisten
Seelenkräfte [?] konvergieren.
Eher wolt’ ich ein Dentist werden als mich auf einen Erkentnis
Zweig
sezen, wo ich für alle andere Wissenschaften dum und tod
wäre. Zum
Glük hängt Satire
[?] mit einigen Wissenschaften von ferne
zusammen.
Die christlichen Sekten machten noch grössere Zwischenräume als
je die verschiednen Latrien der Heiden thaten, die ja auch
fremde Götter,
die nichts waren als die Schuzheiligen der
Katholiken, zu ihren
machten. — Schwerlich wäre unter den zusammen gezwungnen
erkaperten Ländern Alexanders, die weder Geseze noch
Jahre [?]
sondern Furcht seiner Gegenwart aneinander hielt, und die sich
nur
solange niederdukten als er den Zepter aufhob, irgend
einem Kopf diese
Aequazion möglich gewesen. — Gröste Jammer in
der Geschichte,
daß keiner wie das Vieh verglich sondern
lauter isolierte Ideen nicht
sowol hatte als
spedierte. — Für historische Tropfen wie ich. — das
Schöne
fortgeht und nirgend aufhört als im leeren Raum. — Die
Abmarkung der Wissenschaften kan nur in Zeiten fallen, wo ihr Feld
gros ist; je kleiner, desto mehr Polyhistors — so endlich
Westen-,
Hosen-, Rokschneider. — daß nur ein Gleichgewicht
zwischen Krone
und Krone, nicht zwischen Krone und Unterthanen
geboren wird, daß
zwar Vergrössern verhütet wird, daß aber die
Grösse bleibt und daß,
da die Zahl einander
temperierender Staaten wilkürlich ist, im Grund,
da einmal nur
2 Staaten, der Kirchen- und der weltliche Staat, wie
Mufti und
Sultan gegen ein[ander] im Gleichgewicht,
auch das euro
päische beinahe, aber ohne jene
[?] Wirkung dagewesen ist. — Richte
[dich] nicht nach meinen Worten, deren
keines ich im Vertrauen auf
deine Exegese auf grosse
oder kleine Wagen legte. — Ich leihe dir
meine Kritik nur wie
der Jude, der sich das Doppelte dokumentieren
lässet und der mit einem Roman ankömt und sich ganz anders wil
bezahlen [lassen]
als er geborgt hat.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/I_382.html)