Von Jean Paul an Karl Philipp Moritz. Schwarzenbach a. d. Saale, 29. Juni 1792.

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Brieftext

[ Schwarzenbach, 29. Juni 1792 ]

Ihre 2 Blätgen, die ich durch meine Abwesenheit mit einander
bekam, überfülten mein zitterndes Herz mit Freude und Blut …
Meine Phantasie that seitdem nichts als Sie empfangen, Sie durch
unsre Thäler führen, in alle metaphysische Schachte mit Ihnen
fahren, und vor alle ästhetische Perspektiven mit Ihnen treten — Ich
verbiet’ es ihr sonst, Freuden, die gewis sind, im voraus zu kredenzen,
aber in solchen, die so ungewis etc., darf sie schwelgen. O Th[euerster],
welche Freude macht mir Ihr Beifal und die Aehnlichkeit, die meine
Seele vielleicht mit Ihrer hat! Sie solten den thonigten bäotischen [!]
Boden kennen, in den mich das Schiksal gepflanzt und gedrükt, die
algemeine Kälte um mich her, gegen alles was den Menschen über den
Bürger hebt — denn hier versteht man unter dem Herzen, was der
Prosektor darunter meinet, den diksten Muskel — und von den wenigen
Freunden, in denen es höhere Bewegungen als physische hatte, stehen
blos die Gräber neben mir.. Wenn Sie mein Land kenten: so könten
Sie [verstehen], wie einem Einwohner desselben 2 glühende Blätgen

thaten. — Ich weiß recht gut, wieviel der Funke, der eine volle Mine
berührt, sich vom Feuerglobus anzumassen hat, den er aufjagt. Die mit
allen Saiten der höhern Melodie bespante Seele tönt nicht blos
gleichen Seelen sondern auch dissonierendem Geräusche nach. Kuh
glocken wirkten oft so viel auf mich als Harmonikaglocken; aber es kam
nicht von dem, was ich dabei hörte, sondern was ich dabei dachte. —
Ich [bin] jener dem vornehmen incognito abgelernten disciplina
arcani
und Plombierung des Namens feind; ein solches Sekretsin
siegel auf dem unbedeutenden Namen ist blos eine unnüze Beleidigung.
Ihre Fragen kommen nach meiner Antwort. „Was ich bin?“ Nichts,
sag’ ich sonst; aber blos ein Zähler von Nichts bin ich. Bei meinem
unbezwinglichen Hasse gegen alle Brodstudien trieb ich die 3 Fakul
tätsbrodstudien, aber als Unterabtheilungen der Philosophie und des
Spasses, dem ich verdanke, daß ich über den Sturmmonat des Gefühls
unversehrt hinüberkam. Meine Anstrengungen zerfielen in Arbeiten
für etc. den Teufel, und in einsiedlerisches Lesen. Ich blieb und bleibe
bei meinem Verzichtthun auf alle Aemter, das ausgenommen, daß ich
8 Kinder als Mentor unterhalte, deren 3 Eltern in den feurigen Ofen
geworfen zu werden verdienen, weil sie eben so gut sind. — Ich wüste
nicht, daß ich arm wäre, wenn ich nicht eine betagte Mutter hätte, die
es nicht wissen solte. Die Menschen- und Anverwandten Liebe ist noch
das einzige, was uns auf das zerstossende Rad Fortunas flechten kan,
indeß die grossen Auen der Wissenschaft mit Bäumen d[es] Erkent
[nisses] samt ihren Früchten und Schatten und Blumen mit [?] irren
den Düften vor uns liegen — ach in einem Leben, das sobald durch
flogen ist, ist jeder ein Nar, der mehr Mittel als Zwecke hat oder dem
nicht jedes Mittel Endzwek ist. — Miniaturgehenk von Chod[owiezkys]
Medaillons — wo ich Sie mit festern Armen als denen des Traums
umfasse. Wir sehen einander bald, entweder in Hof oder Berlin. An
Ihr[em] Herz[en] schlage ein eben so schönes, die Erinnerung hülle Ihr
Sehnen in einen transparenten umwölkten Himmel ein und du —
Genius andrer Erden — gieb ihm, was ihm diese versagt.

Textgrundlage

Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 1. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1956.

Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

K (nach Nr. 394): Moriz d. 29 Jun. i: Wahrheit 4,349. B: IV. Abt., I, Nr. 136 u. 137. A: IV. Abt., I, Nr. 138. 358, 1 vielleicht Miene 27 ergänzt nach 364,27 28 sie

Bei der Rückkehr von Steben hatte Richter zwei kurze, enthusiastische Briefe von Moritz vorgefunden; der zweite lautete: „Und wenn Sie am Ende der Welt wären, und müßt’ich hundert Stürme aushalten, um zu Ihnen zu kommen, so flieg’ ich in Ihre Arme! — Wo wohnen Sie? Wie heißen Sie? Wer sind Sie? — Ihr Werk ist ein Juwel; es haftet mir, bis sein Urheber sich mir näher offenbart!“ Richter hatte schon bei Übersendung des Manuskripts seinen wahren Namen und Wohnort angegeben, aber Moritz glaubte, es müsse sich irgend ein berühmter Autor dahinter verstecken; s. den Brief seines Bruders Johann Christoph Konrad an Jean Paul v. 1. Aug. 1795 (Eybisch S. 269). 357, 28 bäotischen: vgl. 57, 26†. 358, 2—6 Vgl. die von Henneberger berichtete Äußerung Jean Pauls, „es komme weniger auf die äußere Musik an als auf die innere, die in jedem Menschen lebe und durch jene geweckt werde“ (Persönl. Nr. 138, S. 78). 27f. Der Roman erhielt ein Titelkupfer von Chodowiecki.

How to cite

Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/I_393.html)