Von Jean Paul an Helene Köhler. Schwarzenbach a. d. Saale, 20. Juli 1792.
Brieftext
Unter allen Menschen, theuerste Freundin, lügt keiner so oft — er
mag Papiere oder Wetter versprechen — als der, der die Ehre
hat,
es hier Ihnen zu bekennen. Dasmal aber hätt’ er doch
nicht gelogen,
wenn er nicht gefunden hätte, daß der Aufsaz,
den er für Sie um
schreiben wolte, lieber müsse umgegossen
werden: den Umguß trag’
ich in 8 Tagen in Ihre Stube; er sol
wenn nicht Ihrer, doch wenigstens
meiner würdiger
werden, denn aus dem vorigen Aufsaze sollen so viele
Gedanken
ausfallen als aus des Verfassers Kopfe Haare.
Ich hatte mir selber fest versprochen, Ihnen heute kein ernsthaftes
Wort zu schreiben; aber ich belüge mich eben so wie andre und
wil kein
scherzhaftes mehr schreiben, weil ich da Ihren eben
so ernsthaften als
schönen Brief vor mich hergelegt,
wo Sie mir, dem Sie noch keine
Scherben-Blumen gaben, dafür
weit höhere reichen, deren Blätter nie
abfallen und die nicht
wie andre, in der Nachbarschaft des Herzens
erbleichen.
.... Jezt fället mir auf einmal so viel ein, daß ich wolte, ich hätte
ein breiteres Papier genommen …
Ihre Gedanken über dieses Leben und über den wolkenlosen Nach
sommer desselben gefallen mir auch so sehr, weil sie nicht
Kinder einer
briefstellerischen Minute sondern Vertraute ganzer
Jahre und Schoos
jünger Ihres Karakters
sind. Diese Welt wird nur durch den Blik in die
zweite am
besten ertragen oder genossen; wie der herübergewölbte
blaue Himmel den blumigten Fusboden der Erde verschönert, so
giebt der Gedanke an das, was in
jenem sich verbirgt, allem dem,
was
wir in dieser finden, Reize.
Gleichwol können Ihnen in Ihrem Kriege und Ausfalle gegen die
hiesigen Freuden, deren Kränklichkeit, Sommersprossen und Schram
men Sie so sehr tadeln, nur sehr wenige
Menschen beistehen — d. h.
nur sehr gute. Für jeden andern,
der nicht mehr Sinne hat als fünf,
wächst auf dieser Kugel
Futter genug; und der, dessen Hunger sich an
sinlichen Freuden stillen kan, ist hienieden der einzige
Glükliche. Aber
es liegen in einigen Menschen Samenkörner, die
hier ewig unter der
Erdrinde und ohne Sonne bleiben —
Wünsche und Ideen einer Freund
schaft, die
samt ihren Blüten an jeder fremden Menschenbrust wie
ein
Spaliergewächs gekreuzigt wird — Tugenden, die wir mehr
denken
als haben können, Entzückungen, die uns wie Fürstinnen blos
ihr Portrait vorausgeben — Kurz die Erde ist ein Speisesaal des
Magens, aber nie des Edlern im Menschen; und unter allen
Beweisen
für unser Fortleben ist der der festeste, daß der
Schöpfer uns mit
Tugenden, Wünschen, Träumen für eine ganz
andre als diese Erde
ausgemalet und volgeschmücket hat und daß
gerade die volkommensten
Menschen alle ihre Wurzeln aus diesem
Koth-Boden ziehen und in
einen reinern schlagen.....
Oben steht das Ende.
[
Am obern Rande:
]
Dieses ist kein Brief, sondern nur die Spiel
marke eines Briefes. Ich bin mit einem kürzern Danke als es
ein aus
dem schönsten Herzen geflossener Brief verdient, und
mit immer
währender Hochachtung
F. Richter
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/I_398.html)