Von Jean Paul an Renate Wirth. Bayreuth, 4. Juli 1793.
Brieftext
Liebe Freundin,
Ich fahre in einem Freudenmeer auf und ab und seh’ darin weder
Himmel noch Erde mehr. —
Aus Neustadt send’ ich Ihnen erst einen Brief, der gescheut und
lang ist, welches beides sein Verfasser ist. —
Eine Violine neben mir — die stat auf Schafsdärmern
[!] auf
Aether zu
spielen scheint — sezt meinen Brief in Musik und geigt mir
meine Gedanken vor. —
Ich wil auf den Hauptpunkt kommen: dieser Brief sol die Zucker
zange sein, womit ich einen von Ihnen
herauslange. —
Es ist so:
Die kleine Flotowin ist schön — himlisch — eben so unschuldig als
bescheiden — eben so gut gebildet im Gesichte als im Geiste —
sie
ist …
Jezt wil ich aber recht vernünftig alles von vorn anfangen. Ich
trug demnach vorgestern Ihren Brief hin — und als selbige nicht
zu Hause war: gab ich ihn nicht her — sondern kam gestern damit
wieder
und gab ihn her, als selbige von Mehringer hergerufen
wurde. Gleich
darauf trat auch der Prediger Müller aus Kulmbach ein. Dan
trat
er wieder ab und ich auch, aber eine Stunde später und
aus wars.
Ich habe die Ehre mit besond[rer] Hochachtung zu verharren
gehors. Diener
J. P. F. Richter
Jezt fang’ ich erst recht an. Die Flotowin sol (Sonne und
Mond
wegen) der Regenbogen oder die Iris
heissen. Die sanfte Iris hatte
kaum die Einhändigung meines Briefs — von dem ihr Mehringer
schon abends gesagt — erwarten können und kam sogleich dem
Jean
Paul nachgefahren. Sie
öfnete den Brief unter 4 Augen (ihre ab
gerechnet) — hatte nicht das Herz, ihn gleich zu lesen —
(a propos Ihr
breites Brief-Ufer beweiset zugleich Ihre
Höflichkeit und Ihre Träg
heit) — aber
sie sah jede Minute hinein — endlich hatte sie ihn durch —
—
Sol ich Ihnen denn alles herzeichnen, mit welcher Liebe sie der
Ihrigen, d. h. Ihrem Stilschweigen Vorwürfe machte — wie
schön
ihr die Fragen nach Ihrem Befinden und die
herzlichgute[n] Er
innerungen an die schönen Tage standen,
die das Band der Freundschaft
nahmen und es um Sie beide
zogen — und wie sie mir die halbe Lüge
durch ihre Augen, in
denen ich eben so gern die Freude als die Unschuld>
zittern sehe, abgenöthigt, daß Sie bald nach Bayreuth kämen. —
Vielleicht kömt sie bald 〈in 5 Wochen〉, um Ihren
Vater zu besuchen,
nach Hof. — Blos um wieder neben diesem
sanften Regenbogen zu
stehen, reis’ ich rükwärts wieder
über Bayreuth: denn da giebt sie mir
(nach ihrem Versprechen) einen Brief an Sie mit. Aber ich
möcht’ ihr
nach der ersten Freude eine zweite geben —
nämlich einen zweiten
Brief von Ihnen. Jezt
schreitet meine Bitte auf: daß Sie die Güte
haben, an den
guten Regenbogen am Sontage zu schreiben — an
mich auch mit — mir beide Briefe nach Neustadt zu
schicken, couver
tiert an Wernlein oder an mich mit dem
blossen Beisaz: bei H. Kolla
borat[or]
Wernlein abzugeben — in diesem Briefe ihr meine tolle
Bitte zu schreiben oder auch nicht — damit ich beim
Empfange des
ihrigen etwas in Händen habe, womit ich ihn
gleich bezahle. — Wenn
Sie mir nichts nach Neustadt
schicken: schick’ ich nichts nach Hof; aber
Sie werden eine Gabe nicht versagen, bei der Sie eben so
eigennüzig
als uneigennüzig zu sein brauchen, weil Sie ja
noch von jemand anders
belohnet und beantwortet
werden als von mir.
— — Vermengen Sie nicht, liebe Freundin, meinen Ton mit
meinem Gefühl. Ach Sie müssen es ja so gut wissen wie ich, daß alle die
Bilder der Freude, alle die Echos unserer Wünsche, die vor
uns vorüber
rücken, den öden Menschen
vol Seufzer und vol Wünsche nur beklem
men, nicht befriedigen — daß alle die schönen, wie Gemälde
unsrer
Hofnungen vor uns aufgeschlagnen, Landschaften mit
den Bergen, die
sie ummauern, mit den Blumenflächen, die
auf ihnen zittern, mit den
umhergeworfnen Wolken, die mit
grossen Schatten von einem Berg
zum andern fliehen, daß sag
ich das ganze uns überströmende Konzert
der grossen Erde
doch nichts thut als längst begrabne Klagetöne, un
mögliche Wünsche, eine drückende Sehnsucht, die auf dieser
Erde
verhungert, und Erinnerungen, die so blas wie Hofnungen aus
sehen, aufzuwecken. Ach wenn sich doch
jeder, der bei den magischen
Gebirgen und bei der Sonne, die
hinter ihnen niederrint, sehnend sagt:
„o dort drüben,
hinter den Bergen, hinter der Sonne wohnt ein
schöneres
Land, und glüklichere Tage und bessere Menschen!“ wenn
sich doch jeder antwortete: „hinter den Bergen und der
Sonne steht
„auch ein Armer wie du und hat auch Wünsche wie
du und wir sind
„alle nicht glüklich!“ — Und doch, wenn
mans sagt, hat man gar nichts,
nicht einmal die Sehnsucht.
—
— — Die Musik neben mir und mein Herumtaumeln in der Natur
öfnen Ihnen mein ganzes Ich, auf Kosten Ihrer Geduld.
Leben Sie recht wol und recht unter dem freien Himmel und haben
Sie Ihre Träume auch ausserhalb des Schlafs. — Und du lieber
Mond, der bei meiner Abreise im lezten Viertel war und
bei meiner
Ankunft wieder vol sein
wird, hänge sanft an deinem Himmel — dein
sanftes
Licht macht mich zu weich, dein stilles Niederschauen zieht
mein Herz zu dir hinauf — und es drükt sich an dich an — und fühlt
doch, daß der Mond so veränderlich ist und bleibt — o mein
guter,
sanfter Mond! —
Verzeihen Sie dieses Vergessen — meinen Brief können Sie vor-
lesen, aber nicht vorzeigen. —
Meine Empfehlung an Ihre Frau
Mama, Papa — an mein Schwestergen — an meine Blumen
Lieferantin und an alle — Leben Sie
wol......
2. Postskript. Ihre Briefe müssen mit nächster Post abgehen, weil
wir schon am Montag in Neustadt sind.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/I_433.html)