Von Jean Paul an Christian Otto. Schwarzenbach a. d. Saale, 4. Juli 1793.

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Brieftext

[ Schwarzenbach ] d. 24 Jul. 93.

Lieber Leser

hätt’ ich beinahe gesagt: und im Grund ist auch ein solcher Brief vor
einem Buche eine Vorrede.

d. 25 Jul. Ich wil alle Tage eine Zeile schreiben, so wie mir eine
einfält. — Dieser erste Theil zwirnt nur das Garn, aus dem ich die
Geschichte webe. — Er wird, da ich darin nur für meine Schwel
gereien besorgt gewesen, blos für die Minorität, ja nur für die
Minimität sein. — Er wird zu heftig sein. Meine Lieblingsgerichte
werden zu oft wiederzukehren scheinen; aber die folgenden Theile
unterbrechen sie schon: ich hoffe, es sol da Spizbübereien (solche wie bei
der Residentin) und auch Freuden-Sektores genug geben. — Wenn du
mir einen Tadel daraus machest, daß in diesem Bande (die Paar
künftigen Extrablätter ausgenommen) nichts satirisches vorkomme: so
vertröst ich dich auf den zweiten Theil, in dem ganze Kollegien,
Minister und die Stadt Wien seshaft sind. — Leider mus wieder ein
Hof vorkommen; wofür ich ausser meinen alten Entschuldigungen die
neuen habe, daß ich so selten als möglich dahin gehen werde und daß
ich in meinem dritten Buche alles in der Groschengallerie und auf dem
Parterre spielen wil. Ein Hof hat zwar das Gute, daß er ein Vehikel
von hundert Satiren und der Hebel von grossen Begebenheiten ist,
aber auch das Schlimme, daß man die schönsten Maschinerien aus
dem gemeinen Leben da nicht aufstellen darf. Dafür hat er wieder das
Gute, wenn man einen Narren von der Strasse auflieset und ihn da zu
etwas macht, z. B. zum Hofapotheker: so kent ihn kein Mensch und
kein Höfer. Hingegen bei meinem 3ten Buch werd’ ich — ich mag
immer die Leute bei den Regimentern versezen und aus einem Super
intend. einen Stadtvogt, aus einem Acciseinnehmer einen Almosen
samler backen — Teufelsnoth mit der Exegese haben, weil man in
Büchern nicht einmal bestimte Namen gewohnt hat z. B. Pfarrer stat
Syndiakonus oder Subsenior, Advokat stat Landgerichtsprokurator
u. s. f. — Das gröste Elend eines Autors ist, daß er keiner Materie
den Grad der Verschönerung ansehen kan, den sie anzunehmen fähig
ist und daß er zu spät die Wahl der Materie bereuet. Z. B. Wuz
Geschichte oder eine Abhandlung wo grosse Gegenstände vortreten
(z. B. über die Geschichte der Menschen) strömen ordentlich aus der
Feder; aber eine ernsthafte Erzählung quält einen wie die Dinte in
Neustadt. — Sag mir deine Meinung überal derb heraus, ohne Be
scheidenheits-Franzen, die nur Papier wegnehmen und die ich mir doch
wegdenken mus, um die Meinung zu nüzen: lass mir sie dasmal dazu
denken. — Lese es nur 1 mal durch, denn ich wil es bald wieder: einzelne
Korrekturen wil ich dir nicht ansinnen, weil ich weis, wie schwer sie
einem im Fluge des Lesens werden. — Länger kont’ ich weder deinen
Tadel noch deinen Beifal entbehren, um jenen als Lenkseil und diesen
als Sporn bei den andern Theilen zu nüzen, weil ich sonst ermüde. —
Meine ganze gegenwärtige Seele ist mit allem Inneren, was mich
glüklich und nicht glüklich macht, und was du nicht mit dem äusseren
kleinen Bürgerleben und meinem äussern Schein vermengen darfst,
diese ist so wie die Wirkungen der Tage, durch die ich gieng, in diese
Blätter und in die künftigen hineingedrükt; ich fühle aber täglich mehr,
wie jeder Bogen, den ich schreibe, mich fähiger macht, entweder
glüklicher oder bekümmerter zu werden. Der Tod Moriz ist am meisten
schuld, daß ich dir das Buch gebe, damit du mir wieder Lust zum Fort
sezen giebst — zumal da mich eine Person im Buche beständig an ihn
erinnert. — Sei so gut und sage mir (fast ohne Gründe, um dir Mühe
zu ersparen und weil ich sie schon selber finden wil) nur im Algemeinen
Folgendes:


  • 1. Ob die Geschichte als Geschichte ein Interesse hat (im 2ten Theil
    hat sie’s) und wo es sich unterbricht.

  • 2.
    d. 1 August [Donnerstag].

    Ich mache zuviel Hünergeschrei um mein Nest. Also kurz mein
    Petitum: sage mir deine Meinung über die Karaktere, von denen aber
    freilich im 1ten Heftlein noch kaum die ersten 5 Punkte gemacht sind —
    über alles und mache zu meiner Queksilberröhre die Skala, die mir
    wenigstens den Siedpunkt und unten die Kugel angiebt (nämlich das
    Beste und Schlimste darin) — Ich bitte dich sehr, es in 8 Tagen durch
    zuhaben, da du zumal nichts anders jezt hast. Den Sontag bring ich
    dir die rükständige Hälfte des Manuskripts.


    Wenn du hinausgelesen — zumal das was im Januar und Februar
    geschrieben ist, wo mich Entschlus und Schiksal in einer steten Er
    schütterung erhielt — so wirst du mit einem, den seine innere Lage in
    immer grösseres Misverhältnis mit den meisten äussern bringt, und
    dessen Seelen Nerven jezt blos liegen, weil er sich die Haut davon
    wegschreibt, so wirst du mit einem solchen vielleicht eine gelindere
    Rechnung halten als er selber mit sich halten solte. Auch dieses wird
    vorübergehen und wenn man sich weich schreiben kan, wird man sich
    auch wieder hart schreiben können. Lebe recht wol, mein lieber theuer
    ster Otto, und lasse den kleinen innern Zank, den du mir zuweilen
    ansiehest, nicht einmal zum kleinsten Wölkgen werden über unserer
    heiligen und warmen Freundschaft. Glaube aber nicht, daß ich dir
    öfter als mir Unrecht gebe, sondern ich weis, daß ich allemal 10 mal
    gegen deine 3 male fehle. Dein


  • ewiger Freund
    R.

    Textgrundlage

    Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 1. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1956.

    Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

    H: Goethe- u. Schiller-Archiv. 5 S. 4°. K (nachgetragen im 4. Briefbuch): Otto 24 Jul. 93. J: Otto 1,127 (bis 398, 28) und Nerrlich Nr. 7 (nur der letzte Absatz). A: IV. Abt., I, Nr. 147. 397,5 Minimität] danach der Leser K 17 grossen] aus nöthigen H 398,3 Lenkseil] aus Zaum H 8 ich gieng] aus man geht H 10 fähiger] aus fähig H 30 einer] aus dieser H 31 wird H 33 Seelen] nachtr. H 36 weich] davor gestr. ha[rt] H 37 hart] davor gestr. weich H

    Mit den 15 ersten Kapiteln des Hesperus-Manuskripts. 397, 6 Vor Theile hat Jean Paul eine Lücke gelassen, in die er die Zahl der noch folgenden Teile, die noch nicht feststand, einsetzen wollte. 12 Wien: s. das Extrablättchen des 18. Kapitels (I. Abt., III, 276—279). 13 alte Entschuldigungen: s. 346, 17—20. 15 drittes Buch: Quintus Fixlein. 21 Der Hofapotheker Zeusel (I. Abt., III, 152f.) hatte also in Hof ein Modell; die Vorarbeiten nennen als solches Wagner, vgl. Nr. 131†. 33f. Dinte in Neustadt: vgl. 390, 33, 391, 14. 398, 13 eine Person: Emanuel. 29f. Vgl. zu Nr. 413.

    How to cite

    Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/I_439.html)