Von Jean Paul an Christian Otto. Schwarzenbach a. d. Saale, 4. August 1793.

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Brieftext

[ Schwarzenbach, 4. (?) August 1793 ]

Lieber Christian,

Mit diesem 16 Kapitel und einem Schalttag endigt sich das erste
Heftlein. Das zweite fängt mit 2 Kapiteln an, deren Auszug ich dir
hier noch kürzer als Eutropius geben wil, damit du das 3te hier bei
gelegte verstehen kanst. —


Seine Fata in Flachsenfingen wie das Bild dieses Klein-Wiens lass’
ich hier weg; auch das Bild vom töchtervollen überfeinen Schleunes
schen
Hause, das die Honneurs des Hofes macht, weil Januar für das
Zeremoniel zu bequem ist. Wenn ein Jüngling mit einer Seele vol
solcher Szenen und Wünsche wie die bisherigen, aus dem Dorfe in eine
grosse Stadt oder in grosse Verbindungen kömt: so macht ihn seine
Empfindsamkeit zum müssigen und eben darum zum bittern Zu
schauer; er degoutiert, zum umgekehrten Unterschiede der meisten
Menschen, solche Zirkel früher als er sie goutiert, welches leztere auch
kömt wenn er Mit-Akteur wird. Viktor lässet also seinen Unmuth über
die Unähnlichkeiten um ihn herum (im Grunde, über sein inneres
Schiksal) in einem zu satirischen Sendschreiben aus, das er ans ganze
Eymannische Haus richtet. Um es zu machen, kömt er selber nicht
nach St. Lüne. Er zögert aber aus noch andern Gründen, z. B. aus
dem: wenn man von einem Orte wegist: so sehnt sich der Ort (und
man sich auch) nur so lange nach dem Abgereiseten bis man ihn
wieder einmal dagesehen hat — dan, wenn er nur einmal wieder da
war, kan er seine zweite Visitte so lange verschieben als er wil. Wir
Menschen sind närrische Käuze! Viktor weis das und geht also nicht
von seinem Apotheker fort: er kan aber noch geheimere Gründe
haben. Uebrigens mus jezt Klotildens Bild immer hellere Farben in
ihm annehmen 1) wegen des Kontrastes um ihn, 2) wegen der Ent
fernung, 3) wegen seiner Unzufriedenheit mit dem vornehmen Leben,
weil Misanthropie leicht Mutter oder Schwester der Liebe ist, 4) wegen
Flamin, der immer nach St. Lüne geht und nach und nach (auf hundert
Wegen) sich mit dem angenehmen Sauerteig der beobachtenden
Eifersucht ausschmükt; diese Eifersucht vermehrt im Bastian (närrischer
Kauz!) gerade das, wogegen sie ist.


Textgrundlage

Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 1. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1956.

Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

H: Berlin JP. 2 S. 4°. J: Otto 1,131 (Aug.). A: IV. Abt., I, Nr. 147. 399,11 diesem] aus dem 19 und Wünsche] nachtr. 22 umgekehrten] nachtr. 30 bis man ihn] aus als man ihn nicht 400,4 beobachtenden] nachtr.

Datiert nach 398, 27. 399, 29—32 Vgl. I. Abt., III, 264,37ff.; Jean Paul hatte diese Erfahrung vermutlich bei seiner Übersiedlung von Hof nach Schwarzenbach gemacht.

How to cite

Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/I_440.html)