Von Jean Paul an August Gottlieb Meißner. Leipzig, 27. Juli 1784.
Brieftext
Ich schikke Ihnen hier einige Satiren, weil ich ihrer vielleicht
übertriebnen Bitterkeit ungeachtet es nicht für ganz unmöglich
halte,
daß Sie einige davon oder gar alle in Ihre
periodische Schrift auf
nehmen. Sie sind indessen nicht sowol ein
Beitrag zur neuern Lektüre
als einer zur ältern, weil das
Publikum wol an nichts weniger Ver
gnügen
findet, als an einem Spotte, der sein Gesicht, dem allein doch
nur die Zwergfelle von ienem zu Gebote stehen, in eine ernsthafte
Larve stekket und weil man daher schon längst aufgehöret, die
Satire
anders als mit einem durchsichtigen Schleier zu
verdekken und ihre
Entlarvung dem Leser mehr zu erschweren als
sie gewöhnlich auf
Retouden erschweret wird. Verdiente ein
Schriftsteller [?] den Dank
der Nazion, so verdienten ihn daher die Übersezer des
Donquixotte
[und Candide]; welche die ironische Larve
von beiden theils so geschikt
durchlöcherten, theils so malerisch mit der pöbelhaften Hefe,
womit
Tespis an seinen
Schaupiel[ern] das launichte Gesicht
ersezte, über
tünchten, daß wir alle über die komische
Verschönerung in das gröste
Gelächter ausbrechen musten. Diese
Betrachtung hat mich abgehalten,
Ihnen eine andre
ironische Abhandlung zu [schikken], welche
dahinaus
läuft, „daß wir allerdings die
schäzbarsten Anlagen zur Tugend besizen;
daß diese der Zunge
eingepflanzet sind, die das einzige Glied an uns ist,
das
stets zur Ausübung der edelsten Handlungen aufgelegt und willig
ist; daß daher aber auch die Foderung einiger Moralisten, die von uns
stat der Namen der Tugenden die
Tugenden selber verlangen, in aller
Rüksicht eben so
lächerlich und übertrieben sei als iene Mode der
Philosophen
zu Lagado, die im Umgange die Dinge selbst stat ihrer
Namen brauchten, womit man doch von ieher sich begnüget und
ein
ander sich verständlich gemachet
hatte.“ — Ich weis aber nicht, ob die
mitgeschikten Satiren im Stande sein werden, mir Ihre
Erlaubnis aus
zuwirken, ihnen die gedachte
nachfolgen zu lassen.
Übrigens hat mir das Schiksal eine Lage beschieden, die mir es nicht
erlaubet, Ihnen zu verschweigen, daß ich es nicht vermag, mir
die
geschminkte Larve der schriftstellerischen Uneigennüzigkeit
zu kaufen
sondern gezwungen bin, zu iedermans gröstem
Erstaunen mit einem
entblösten Gesichte herumzulaufen. Mit der
grossen Hochachtung, die
ieder dem Verf. des Alzibiades
schuldig ist, etc.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/I_77.html)