Von Jean Paul an Erhard Friedrich Vogel. Hof, 3. März 1785.
Brieftext
Sie werden es meinem Briefe bald anmerken, daß mir der Über
bringer desselben nicht länger als eine halbe Stunde zu
seiner Ver
fertigung gelassen hat. Ich mus
mir daher eine fleiss[igere] Beant
wortung auf den Sonabend vorbehalten, wo
mein Bruder den ge
wöhnlichen Zug nach dem goldnen
Vlies thun wird.
Eine solche Wasserprobe, wie die, auf welche Sie meine angeblich
stoische Denkungsart zu sezen vorgeben, könte eine Denkungsart
be
stehen, die der stoischen unähnlich und
meiner ähnlich wäre. Das müste
ein elender entmanter, Herz-
und Kopfloser Tropf sein, den eine
schlimme Rezension — sie
müste denn die erste sein — in die Noth
wendigkeit sezte, den Leibarzt Epiktet kommen zu lassen, um eine
Eisenkur gegen die Verblutung durch einen Mükkenstich,
vorzunehmen.
Denn was ist ein Rezensent? Eine einzelne,
unbekante Person, die
nicht so viele Stimmen hat wie
Mars im Homer oder wie die Seligen
die nach Lavater mit allen Gliedern reden werden. Zuweilen hat
er
nicht einmal Eine Stimme, weil er keinen Kopf hat. Sogar auf
das
Urtheil des Publikums mus erst die Zeit ihr grosses Siegel
drükken;
und Hume erwarb sich lange Zeit mit seinen
historischen und philo
sophischen Meisterstükken nichts
als die Verachtung des so feinen
Englands, bis es sie endlich
mit der gerechtern Bewunderung ab
wechseln lies. Und endlich ist eine
schlimme Rezension wahr: so kan ich
nicht über meine Belehrung
oder Bestätigung oder über den bessern
Geschmak des Richters
zürnen: ist sie falsch, so mus ich mit dem
Kopfe und
dem Herzen des Rezensenten ein ungeheucheltes Mitleiden
haben.
Indessen passen nicht alle diese Gemeinpläze auf mich... wo er
Unrecht hat, da ist der französische Geschmak in Leipzig
schuld, der
wol schon bessere Bücher als meins, wenn sie in englischem
ge
schrieben waren, verurtheilt hat.
Mein Geschmak hat sich so geändert,
daß der Tadel, der diesen
trift, mich verfehlt: einem Manne kan es sehr
gleichgültig
sein, daß man ihm vorwirft, er hätte als Kind viel viel
besser
und ernsthafter denken sollen. Endlich hab’ ich schon zu günstige
Urtheile eingeholt, als daß ich über einen so späten Tadel
untröstlich
würde. — Übrigens sind Sie sehr bescheiden
oder unaufrichtig, wenn
Sie glauben, daß der Tadel eines
Quidams Ihrem Beifalle das
Gleichgewicht halten kan. — etc.
Indessen wünscht’ ich, daß Sie mich
niemals mehr so
erschrekken wie heute und ich ersuche Sie, meinen
Augen iede
Rezension, die Sie nicht lobt, mit freundschaftlicher Vor
sicht zu entziehen. Denn entscheiden Sie selbst, kan es wol
für einen
Autor, der nur ein wenig gesund denkt und der auch
nur ein wenig sich
um philosophische Unabhängigkeit von
fremden Beunruhigungen be
wirbt, etwas
schlimmeres und traurigeres geben, als wenn ein un
bekanter Mensch von seinem Dachstübgen herab ihn nicht mit
Lob
erhebt? Mich dünkt dies ist eine Klippe, an der der
Stoizismus des
Epiktets schwerlich anders als gescheitert vorbeiziehen
dürfte.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/I_95.html)