Von Jean Paul an Heinrich Voß. Bayreuth, 22. März 1822.

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Brieftext

Baireut d. 22ten März 1822

Mein geliebter Heinrich!

d. 19. Apr.


So fahr’ ich fort, und schreibe meinem unvergeßlichen Voß in diesem
Jahre erst zum ersten male. — Nur die Hoffnung tröstet mich, daß du
durch kein Schweigen deinen Glauben an die Unveränderlichkeit meines
Herzens erschüttern lässest. Freilich ist dieses neueste mein sündlichstes, da
ich dir den Dank für das brüderliche und musterhafte Besorgen meiner
traurigen Angelegenheiten so lange schuldig blieb. Andern geb’ ich
auch auf die schönsten Briefe gar keine Antwort. In diesem Jahre
schrieb ich fast nur Geschäftbriefe. Die Hauptursache ist: Nachmittags
bin ich zu keiner schreibenden Thätigkeit recht aufgelegt; am Vor
mittagewo ich eben dir schreibe. aber benutz’ ich sie zum Fortschieben meines Kometen, dessen
3tes Stück im Juny in deinen Händen sein wird. — Meinen Körper
hab’ ich durch meine Heilkünste wieder zum Ertragen ächter Weine und
der Arbeit ziemlich hergebessert. — Nun lasse mich alles durch einander
sagen.


Im Mai reis’ ich nach Dresden. Aber mein Rhein und mein Kreuz
nach sollen darum doch nicht meinem Herzen und meinen Augen ab
geschnitten bleiben. Ich habe jetzo das Recht, auch einmal anders zu
weinen; wenn es noch möglich ist. — Meine Odilie ist in Würzburg
im „orthopädischen“ Institut des trefflichen Heine, wegen ihres Rück
grats, dessen Verbiegung sie bei aller übrigen Gesundheit sich durch
Kinder-Gymnastik geholt. — Durch meine nach Basel reisende
Schwiegermutter bring’ ich dir leichter meine Mumien und Prozesse
zu. Lies ja von beiden die neuen Vorreden; wozu bei letzten noch ein
Epilog kommt. — Hofmann, der meine Mumien-Vorrede (gegen ihn)
noch nicht gelesen, sandte mir mit vieler Preisung den 2ten Theil seines
Katers, um mich (vergeblich) zu einer Arbeittheilnahme zu bereden. —
Der Verfasser der falschen Wanderjahre hat — obwol als Künstler
nicht glänzend — doch über Göthe’s moralisch-anbrüchige Charaktere
vieles Recht und trifft sehr mit Herders Tischreden zusammen. Welch’
ein ganz anderes Betlehem von großen, reinen und doch wahren
Charakteren ist nicht in W. Scott’s Gebärhaus, gegen Göthe’s heid
nisch-sinnliches Heroum! — Aber Scott ärgert mich wieder durch die in
Brüche zerstückte Einheit des Interesse, wiewol in Göthe’s Wander
jahren auch Brüche genug vorkommen. Eine so späte Kritik kann und
soll aber nicht dem alten, nun unschmelzbaren Meister helfen, sondern
blos der ganzen Welt, die Göthen nicht scharf genug nimmt. — Er und
Byron theilen sich in die Titanische Natur, gegen welche mein „Titan“
kämpfen will. — Schreibe mir doch den neuen Gattennamen und Wohn
ort der Lux, die an mich Spitzen und Westenschnur bestimmt hat; und
schicke mir ihren Brief. — Noch immer kenn’ ich deines Vaters Werk
gegen Perthes nur aus dem Morgenblatte. — Ich bitte dich, der
liebenden, mich so schön fortliebenden Sophie Dapping meinen
grüßenden Dank für ihr herz- und schmerzreiches Blättchen zu bringen,
das nicht blos mich und meine Frau, sondern auch Emanuel durch das
Anschauen einer schönen Seele recht erfreuet hat. — Sage noch be
sondern Dank dem Arzte Conradi, der allein auf dem rechten Heil
Wege war — Hier wurde vom Arzte durch Depotenziieren getödtet —
Die Reise an sich wäre eher gut gewesen — Lasse mich heute nichts
nennen; denn mein Schmerz wird ohnehin jeden Tag jünger. — — —
Und so ergeh’ es denn dir recht froh, du mein Geliebter und ungetrübt
fortschimmernder Abendstern aus dem versunknen Heidelberger Früh
ling. Ich liebe dich sehr, mein Heinrich! — Grüße deine Eltern und
deine Umgebung. —


Richter

Textgrundlage

Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 8. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1955.

Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

H: Landesbibl. Eutin. 4 S. 8°. K: Voß in Heidelb. den 22 März. J 1: Wahrheit 8,303×. J 2: Voß S. 137×. B: IV. Abt., VIII, Nr. 139. A: IV. Abt., VIII, Nr. 184. 164,6 mich] danach gestr. dabei H 10 Andern] aus An andern H 13 recht] aus mehr H 17 lasse] aus laße H 25 geholt] danach gestr. hatte H 165,4 Meister] Göthe K 9 deines Vaters] aus das H 13 durch das] aus mit dem H 15 Heil-] nachtr. H 17 Lasse] aus Laß H

164,31 Verf. der falschen Wanderjahre: Pustkuchen, vgl. 196, 2ff. 35 Über W. Scott hatte sich Voß in B bewundernd geäußert. 165, 8 Lux: vgl. IV. Abt. (Br. an J. P.), VII, Nr. 121 und Nr. 204. 10–14 Sophie Dapping: s.Nr. 264†. 15 Joh. Wilh. Heinr. Conradi (1780—1861), Prof. der Medizinin Heidelberg; s. IV. Abt. (Br. an J. P.), VIII, Nr. 135. 16 Arzte: Walther? vgl. Nr. 210.

How to cite

Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/VIII_276.html)