Von Jean Paul an Christian Ernst Nikolaus Kaiser. Bayreuth, 8. Juli 1822.
Brieftext
Bleiben Sie gesund im Dinten-Wirbel Ihrer Arbeiten, den sogar
das Ausland noch mit neuen verstärkt.
Weniger ein Urtheil als blos eine Meinung und meine Empfindungen
kann ich über des edeln Purgolds
Nachlaß aussprechen. In allen seinen
Werken glänzt ein
reiner Adel des Gemüths und eine sittliche Be
geisterung, besonders für Vaterland, Freiheit und Sprache.
Jedoch dem
sittlichen Gehalte wiegt der
ästhetische nicht gleich. Dem Trauerspiele
mangeln
sichtbar-fortschreitende Handlung und scharf-bezeichnete
Charaktere, und die stillen Reize der Dikzion und der musikalische Pomp
am Schlusse der Aufzüge helfen der innern Schwäche nicht
ab. Abelard
hingegen wäre — mit den neuen Verbesserungen, welche den
Autor
als einen strengen Selberrichter in Wort
und Sache und als einen
ernsten Sprach- und Stilforscher
darstellen — dieses Werkchen wäre,
besonders dem jetzigen
sich selber mystifizierenden [?]
philosophielosen
Zeitalter neugedruckt zu gönnen,
wenigstens als eine populäre beredte
Theodizee, die nicht
über das Erbauen des Herzens das Bauen des
Geistes vergißt.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/VIII_315.html)