Von Jean Paul an Ernst Ludwig Grosse. Bayreuth, 20. November 1822 bis 1. Dezember 1822.
Brieftext
Meine Antwort wird wie ein Trauerspiel aus Schmerz und Freude
gemacht; nur mit dem Unterschiede, daß die Freude
überwiegt. Und
diese ist: daß ein Jüngling von 19 Jahren
schon so viel ausführt, und
doch noch 10 mal mehr
verspricht. Am meisten ragt vor die Gewalt und
Flamme
Ihrer Dikzion — und die Kraft und Freiheit der Übergänge,
sammt der Lebendigkeit des Dialogs. Auch hat Ihr Janus mit der
tragischen Larve hinter sich eine komische. Der
Sentenzen, so wie der
einzelnen lieblichsten Bilder und
Ergießungen (wie S. 37. 38. 43. 85.
111) gedenke
ich ihrer Menge wegen gar nicht. Kühn und neu ist der
Friedenschluß und — mir wenigstens — recht. Kurz das herrlichste
Trauerspiel können Sie geben — nach 5 Jahren, höchstens
nach 10;
denn dieses ist es noch nicht, und überhaupt
kaum eines. Der matte, blos
in ruchlosen Worten, nicht
einmal Thaten fortrasende Held ist kein
Charakter;
so ist seine Umgebung eben so charakterlos-wahnsinnig und
ruchlos.
Die lange Aussetzung dieser mir so wichtigen Antwort beweise
Ihnen die Menge meiner Störungen durch Geschäfte, Briefe,
Besuche,
körperliche Winterübel und
literarische Arbeiten. Mit dieser Menge
entschuldigen Sie
daher gütig die flache Kürze meines Urtheils. Unter
allen
dichterischen Schöpfungen ist die der Charaktere die schwerste,
und nur darin überragt Shakespeare alle Dichter. Erst im Alter und
erst an historischen Stoffen gewann Schiller
Charakteristik. — Goethen
und noch mehr Shakespeare ahmen Sie stark nach; — und Sie sollten
eine Zeitlang andere Dichter lesen, die griechischen
ohnehin — aber
jeder Jüngling ist früher Kopie als Urbild, früher der
fremden Dichter
Echo als deren Aeolharfe; denn jeder ist
ein Schüler der Zeit, bevor er
ein Lehrer einer spätern
wird. — Was Ihrem Stücke die Leserinnen
(die
Zuhörerinnen ohnedieß) entziehen muß, ist das häufige nackte Auf
treten der tiefsten Sinnlichkeit,
vollends eine so böse aus Göthe’s Elegien
entlehnte Stelle p. 156. —
Verzeihen Sie meine nur durch Gedanken
striche vermittelten Sprünge. Gerade um der Dichtkunst zu leben und
zu reifen, sollten Sie Fremdartiges treiben, nicht einmal
Theater- oder
Redaktörwesen; gerade unter dem
Schnee des gemeinen Geschäft
lebens
wächst das poetische desto grüner. Was liebte und lernte nicht
unser Göthe in allen unpoetischen Wissenschaften von der
Osteologie
und Mineralogie an! Auch muß ja das Leben selber noch
früher etwas
werth sein als dessen Darstellung. Bei Ihrem
Überschusse von Kräften
sind Sie jedem
bürgerlichen Geschäfte gewachsen. Nur scheint mir der
Umweg dazu durch ein theueres Studieren in Leipzig viel zu lange.
Könnten Sie denn nicht bei Ihren griechischen und
mathematischen
Kenntnissen ein Schulamt gewinnen? — Vor der Hand rathe
ich
Ihnen einen Roman zu schreiben, der für den Vater
einer in 11 Tagen
geschaffenen Bertha mehr Spiel
und doch ein Spiel mit Gewinn sein
muß. — Die Wahrhaftigkeit, die ich dem Einzelnen, und
noch mehr der
Vielheit schuldig bin, verbietet mir eine
lobende Rezension des Gordo
zu schreiben, wenn ich nicht mit dem Lobe zugleich auch
den Tadel
erweitert ausspräche. Aber dieß dagegen werde
ich thun, daß ich im
Jenner des Morgenblattes in
einer Note auf die herrlichen Geschöpfe
aufmerksam mache, die eine so kraftreiche Frühgeburt
trotz aller ihrer
Misglieder der Dichtkunst verspricht.
Sie wissen nicht, wie einem
Schriftsteller von nur
einigem Rufe wieder von allen Schriftstellern
bittend und
fodernd zugesetzt wird; um so mehr verzeihe ich Göthen,
der länger und stärker bestürmt wurde als irgend
einer.
Leben Sie froher, halten Sie daher Leidenschaftlichkeit nicht für
Nahrung und Attribut des Dichters, sondern für Gift
desselben. Ich
grüße Ihre Gattin.
Hahn’schen Hofbuchhandlung, Hannover.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/VIII_351.html)