Von Jean Paul an Otto August Rühle von Lilienstern. Bayreuth, 2. Oktober 1808.

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Brieftext

Leider eiligst
Bayreuth d. 2. Okt. 1808

Ihr Buch verdient sein □format, es ist quadrierend (für manche
krumme Linien) und quadratus. Mit großer Freude über Sie —
und über das Glück Ihres Zöglings — hab’ ich Ihr Werk gelesen,
das neben 〈mit〉 der Gelehrsamkeit und neben 〈mit〉 dem mathe
matischen Geiste gleichwol so viel poetisches und philosophisches
Zusammenfassen darstellt und ausübt. Sie haben mich in meinen
Arbeiten durch die Ihrige fast gestört; denn ich wollte zu Ende lesen;
und ließ das Schreiben bleiben. Ich wüßte nichts zu tadeln als etwan
den Eingang und die wenigen eingeschalteten Erinnerungen an die
Schreib-Verhältnisse. Ihr Buch ist Wundbalsam für die wunde
Zeit. Aber leider nur die gebildeten Menschen heilen sich an Büchern
und Ken[n]tnissen. Wie soll aber das arme Volk, das die Unerläß
lichkeit
dieses Kriegs nicht kennt und das mit dem Schmerzen
der Wunden zugleich den Schmerz der Ungerechtigkeit empfängt,
wie soll dieses aushalten ohne sittliche Verschlimmerung; und wäre
diese nur eine durch Haß? Ich trage den Krieg ruhig wie einen
Winter, weil ich durchaus Ihrer Meinung über das zerquetschende
Außen- oder Ministerial-England bin. Allein wo sollen dem un
verständigten Volke, das seinem engen Herzen und Blicke nach, nur
Gelder- und Länder-Eroberungen in allen Blutvergießungen sieht,
die Kräfte des Ertragens, Anstrengens, Aufopferns, ohne Kosten
der Moralität, herkommen? — Was ich hiemit meine und wünsche,
wäre eben, daß irgend ein Volks-Mann dem gemeinen 〈Volks-〉
Deutschland Ideen wie die Ihrigen, oder zum einen Theil (denn
der zweite ist ein unmoralischer) wie die Buchholzischen in der wirken
den Klarheit darstellte. — Und wär’ es blos aus Menschenliebe! Wie
leicht erträgt die Idee den größten Schmerz! Und wie schwer muß
dem armen Volke derselbe Schmerz zu ertragen fallen bei ent
gegengesetzter Idee! — Haben Sie Dank für Ihr erquickendes Ge
schenk! Aber für Ihre persönliche Erscheinung würd’ ich wahr
scheinlich noch mehr danken; denn ich sähe Sie rundum.

Jean Paul Fr. Richter

Textgrundlage

Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 5. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1961.

Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

H: Städt. Museum, Bayreuth. 4 S. 8°. Präsentat: 20ten Nov. K (nach Nr. 574): v. Lilienstern in Dresden 2 Okt. i: Denkw. 3,178. B: IV. Abt., V, Nr. 185. 238,19 gleich wol] nachtr. H 24 für die wunde] aus der wunden H 26 Wie] aus Was H 27f. dem Schmerzen der] aus den H 29f. wäre diese] aus wär’ es H 30 eine] nachtr. aus die H 34 Blutvergießungen] aus Anstrengungen H 36 hiemit] aus hier H 239,3 ist] davor gestr. wäre H 4 blos] aus schon H

August Rühle von Lilienstern (1780—1847), der Freund Kleists und Adam Müllers, damals Major und Kammerherr in weimarischen Diensten und Gouverneur des Prinzen Bernhard von Weimar, hatte Jean Paul mit dem Ausdruck der Verehrung und Liebe sein (z. T. gegen England polemisierendes) Buch „Hieroglyphen oder Blicke aus dem Gebiete der Wissenschaft in die Geschichte des Tages“, Dresden 1808, zugesandt. Jean Paul erwähnt das Werk in den Dämmerungen (I. Abt., XIV, 88,14). 239, 3 Buchholz: vgl. 217,28 †.

How to cite

Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/V_577.html)