Von Jean Paul an Caroline Herder. Leipzig, 26. September 1798.

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Brieftext

Leipzig d. 26. Sept. 1798 .

Verehrteste Freundin! Aus meiner gebohnten und plattierten
Gegend und — Kaufmanschaft schick’ ich Ihnen gern noch einen Brief,
weil ich in Weimar jedes Vergnügen haben kan, nur nicht das, an
Sie zu schreiben. Ich erschrecke oft freudig und verschämt, wenn ich die
frohen Stunden bei Ihnen, diese unbezahlten Gaben, zähle und wäge;
und jezt in der Nüchternheit von meinem Reise-Taumel komt es mir
oft vor, Ihre und meine Hand that sich zu häufig auf, Ihre gebende
und meine nehmende.

Aber, Verehrteste, alle von Ihnen geschenkte Rosen- und Ernte
stunden würd’ ich in der begeisternden Minute wiederholen, worin ich
einmal in Weimar mein Herz schöner und stärker ausdrücken dürfte als
in Worten; und worin mir ein holder Genius eine Handlung ver
gönte. —

Das erste mal in meinem Leben war meine zweite Begeisterung stärker
als meine erste; und warum sol ichs Ihnen denn nicht heraussagen,
daß ich — der immer mehr in den fernen Sonnen nur nahe zer
trümmerte verkalkte vulkanische Erden antrift — meine so belogne
Seele endlich an einer grossen herlichen Ausnahme erquicke? Ach der
Geist, den das Schiksal Ihrem auf ewig zugeselt, wird nicht genug
errathen und geehrt — kaum von sich — dieser durchgötterte Mensch,
dessen Brust im Aether steht und nur dessen Fus in der Erdenluft und
der nicht die Blätter des Erkentnisbaumes, nicht die Zweige, sondern
den ganzen Baum ergreift und nicht diesen sondern wie ein Erdbeben
den Boden stat des Baumes schüttelt — dieser verhült sich hinter
Scherz seine höhern Wünsche und seine Überlegenheit über das Jahr
hundert; und eine höhere Stimme mus ewig in ihm rufen: „ich bin
„nicht an meinem Ort, nicht in meiner Zeit, und meine Wünsche sind
„nicht nur versagt, sondern auch verhült.“ —

Vergeben Sie was poetisch hier scheint; aber meine Meinung ist es
weit mehr als meine Sprache. —

Prosaisch genug ist die Bitte, die ich jezt an Sie zu thun wage: daß
Sie mir — (oder wenn Ihre Geschäfte es verbieten, so ersuch’ ich Sie,
die ganze Bitte an Lieutenant Lichtenberg zu senden) — Ein altes
Repositorium kaufen und Ein neues bestellen lassen. Das neue — das
kein Bücher- sondern nur ein Papierbret sein sol — wird so lang
<hoch> als die beiliegende gelbe Schnur, so breit als der weisse
Faden, und der Zwischenraum der Fächer wird überal, oben und
unten, nicht weiter als der schwarze Faden besagt. Verzeihen Sie
dieses Linienblat; was nahe, und was immer wirkt, das wird zulezt,
und wär’ es ein Bücherbret, almächtig.

Noch einmal! Vergeben Sie. Alle Ihre Lieben um Sie seien ge
grüsset und glüklich und der Genius, den ich geschildert habe! —

Jean Paul Fr. Richter

Textgrundlage

Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 3. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1959.

Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

H: Goethe- u. Schiller-Archiv. 5 S. 8°. K: Die Herder 26 Sept. J:Herders Nachlaß Nr. 18×. (Wiederabgedr. 3,35×.) A: IV. Abt., III.1, Nr. 88. 100 , 24.26 worin] aus wo H, wo K 31 antrift] aus findet H, findet K so] so oft K 32 der] aus dieser H 101,2 den Boden] nachtr. H 5 Ort] aus Orte H nicht in meiner Zeit,] nachtr. H 14 weisse] nachtr. H 15 wird] aus ist H 17 immer] aus immerfort H

100,34 ff. Vgl. 93, 37 ff. 101, 11 Lieutenant Lichtenberg: der Schwiegersohn der Berlepsch.

How to cite

Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/III_131.html)