Von Jean Paul an Christian Otto. Weimar, 3. November 1798 bis 4. November 1798.
Brieftext
Lieber Otto! Gestern vor [8] Tagen um 9
Uhr früh fuhr ich durch
die Pforten meines neuen
Jerusalems. Denn lezteres hab’ ich wirk
lich. Kein Stiefgenius
beschied mir zur Aufwartung die Hausfrau
selber, meine Stubenthürnachbarin, die für mich wie eine
Mutter
sorgt — die in meiner Abwesenheit eine zweite
Thür in mein Zimmer
hat und alles herlich legt und
aufträgt — für mich handelt — mich
um 6 Uhr zur
warmen und erleuchteten Stube und Kaffeekanne auf
klopft — und der ich stets 1 Laubtl.
g[ebe] wovon sie ohne Rechnung
auszahlt [bis]
sie einen neuen braucht — und der ich oft ein Glas Wein
verehre. Ich bin H[err und] Maire
meiner ganzen Brust — der schönste
Friede ist darin
beschworen — und alle Grundsäze sind auf den Beinen.
Warlich ich bin glüklich.
Wolt ich das Äussere rechnen: so könt ich die Liebe anführen, die
ich hier immer wärmer gewinne. Gleich auf den andern Tag
lud mich
am ersten Amalie in der Retoude
[!] zum Diner; auch die andere
Her
zogin, mit deren 2ter Hofdame ich darin lange sprach, pries wie diese
mich sehr am Tisch, wie mir Herder sagte. Es ist eine fatale Einrich
tung, daß es eitel scheint
[und] sogar ist, wenn ich alles
[hier an]führe
z. B. Wielands Wort, als ich mit Böttiger bei ihm war, daß ihm
zum Unglük gerade seine schönen Töchter gestorben seien
und daß die
eine, die zu zart fürs Leben gewesen wäre, ich hätte
nehmen müssen,
weil ich u. s. w. Sogar mit Bertuch und Kraus
quick’ ich mich an und
ersterer bot mir in der Retoude seine Maske und Saloppe
an zum Hinab
gehen in den
Maskensaal.
Gegen das neue Theater sind die andern deutschen nur Kulissen. —
Der Musikdirektor, ein Jünger Haidens, giebt eine Musik wie der
vorige Musikdirektor Herschel
eine Astronomie. Ich bin mit genug
Komödianten
[bekant?] einer zeigte mir am
er[sten] Tage alles. —
Die Sä[ngerin]
unter meinem Tisch, Madischek, besuch ich abends
zuweilen nach dem Essen; sie ist eine geradbrechte Version
von Philine,
und ohne Schönheit. Indes ists für mich eine Gymnastik des
Wizes.
Sie lacht und singt mehr als sie spricht und mit
Recht. Sie erzählte mir,
daß sie Göthen gefragt,
wie sie mich zu empfangen habe und sie wolle
mir trillernd entgegentanzen. „Kind, mach’s wie bei mir
und sei
natürlich“ sagt er. —
Herder (aber sage nichts davon) hat 1 Alphabeth seiner
Metakritik
fertig, das er mir zum Durchsehen und Anmerken geben wil.
Ich sagte
aber, ich würde und wolte nichts darin
lesen als das Ausgestrichne, um
es zu wissen oder zu
retten. —
Von Leipzig schied
[ich] mit ganzem und fast kühlem Herzen;
und die Stadt wird durch die Ferne noch kleiner. Für Dorothea wurd’
ich kein Herman. — Eine andere
heissere Verwickelung, die immer
sinlicher wurde, löste sich gerade durch den
Abschied, ohne es zu sehr
geworden zu sein. Der Teufel
zieht mir die verdamtesten Wolfsgruben
über den Lebensweg
— besonders dadurch, daß entweder nur die
andere Person
liebt, oder nur ich; jenes ist für das Gewissen gefähr
licher, dieses für das Glük.
Nichts häuft Korrespondenzen mehr als Städte-Tausch; jezt hab
ich noch eine
leipzi[ger] zu verwalten. —
Schreibt alle blos meinen Namen auf die Briefe und weiter
nichts. — Bitte meine Korrespondentinnen um Nachsicht; du siehst
aus diesem die Kargheit meiner Zeit. Und doch verzettle
ich sie wenig
in Besuchen. — Suche „Sternbalds
Wanderungen“ [von] Thiek zu
bekommen; sie sind gut.
Vergieb die lüneburg[er] Heide des
Briefs; hab’ ich dir deine fort
währende Gerichtsvakanz über die Palingenesien ja auch zu ver
geben. — Ich wil jezt die
schnelleste Post herausprobieren; schreibe
mir das Datum
der Ankunft dieses. — Die Schüz aus Jena war in
Hof und sah durchs Schlüsselloch in euer Konzert; sie war
gestern mit
Schüz in der Komödie. — Lebe froh! Ich wolte ich hätte
keine Fakta
mehr zu sagen, damit ich schöner mit dir aus und zu dem
Herzen
spräche!
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/III_149.html)