Von Jean Paul an Emanuel. Hof, 15. April 1795 bis 23. April 1795.
Brieftext
Mein guter Guter,
Gerade in der Stunde, wo ich Ihren Brief weglege, fang’ ich meinen
an. Ihrer ist für mich ein Katheder oder vielmehr ein
Hohlspiegel, der
mir im Rauche der Worte den abgeschiedenen
Geist des Judenthums
schwebend darstelt. — Mein Brief sol ein Sekundawechsel des
Ihrigen
sein oder vielmehr eine 2te Auflage desselben.
Erstlich über mein „Leider hab’ ich mehr über als von den
Juden
gelesen“ Das kan nichts heissen als ich beklag’ es,
daß ich die Unter
drükten fast blos aus
dem Munde der Unterdrücker kenne — daß
Christen die
Portraitmaler der Juden sind, denen nicht mehr zu glauben
ist als wenn Juden die Portraitmaler der Christen sind.
Denn der feine
Geist jedes Volkes — eines so unähnlichen
zumal — verdampft wie
jeder Spiritus, in allen
Schilderungen; und nur aus der Geschichte, dem
Leben und den
Schriften des Volkes selber ist sein spiritus rector,
sein
Lebensgeist rein abzudunsten und zu kohobieren.
Allerdings haben Sie Recht, daß der Talmudist sich in den äusser-
sten Gränzen seiner Bestimmungen gefalle; auch darin haben
Sie
Recht, womit Sie ihn rechtfertigen, daß einer
nämlich, der über ein
kleines Gesez wegschreitet, endlich
auch das grosse überspringe. Aber
damit ist der Talmudist
wenig gerettet. Zwar wird man tugendhaft
auf einmal, d. h. durch einen plözlichen ewigen Entschlus,
durch so
genante Bekehrung, die
aber noch keine Tugendfertigkeit ist, und laster
haft wird man almählig, jeden Tag
sezet eine trübe Welle neuen
Schlam ab — und ich sage in
meinen Hundsposttagen: „die Tugend
zieht nur durch Portale in uns ein,
aber der Teufel durchs Fenster und
durch Sphinkter und alle Poren.“ Allein ich behaupte, der Talmud
entkräftet durch Zeremonien Unter
Zeremonien mein’ ich das ganze Betragen gegen Gott und andere, das
mir nicht mein Gewissen, sondern eine Offenbarung
diktieret und das daher alle
Verschiedenheiten der
Offenbarungen theilt. Unter Tugend aber mein’ ich den Ge
horsam gegen das erhabene Gesez, das von einer Zone zur
andern in jedem Busen,
im braunrothen und im
negerschwarzen mit gestirnten Zügen brent.
die Tugend. Man kan nach dem Münz
fus aller Zeremonien leben, ohne eine einzige Neigung — was gerade
schwer ist — unter den Prägstok der Moral zu bringen. Es ist
dem
eiteln Menschen leichter, die Lumpen der Mönche
anzulegen als ein
simples Kleid. Man solte denken, wenn man
lieset, daß so viele Brami
nen 50 Jahre lange aus Religion in
die Sonne oder auf die Nase sehen,
auf Einem Beine stehen,
Schlaf entrathen und die höchsten Martern an
sich fortsezen —
oder daß so viele unserer Mönche und Heiligen sich todt
geiseln, todt beten, todt hungern, — — man solte denken, sag’ ich, solche
Aufopferungen müsten die kleinern, die die Tugend fodert,
voraussezen
und es müste eben so viele Tugendhafte
als Heilige und Märtyrer
geben .... Und es ist doch nicht
so: die Ursache ist, alle jene Büssungen,
jene Zeremonien
vertragen sich leicht mit der grösten Wildnis des
Herzens
und es ist viel leichter, die ganze Thora des Talmuds als ein
einziges Reglement aus der Thora des Gewissens zu befolgen.
Dazu
macht der talmudische Sachsenspiegel den
Menschen kleinlich und eng:
die edle Seele steigt über religiöse Zeremonien so gut auf als über
bürgerliche und dringt in den reinen grossen Himmel. Noch
in der
andern Welt werden wir auf unsere Tugenden,
Aufopferungen und
Thränen in dieser ohne Verachtung
niederblicken; aber vergängliche
Dinge, solche wie
Enthaltung von Todten-Berühren, wo eben so gut
das
Gegentheil geboten sein könte, müssen uns dort winzig erscheinen wie
die warme Erdenkruste des Körpers, an den sie gebunden sind.
Ueber
haupt hängt Ihrer sonst
scharfsinnigen Nazion — deren Physiognomie
durchgängig die scharfe mit vordringenden festen
Gesichttheilen
schneidende des Scharfsins ist (ich
habe noch an keinem Juden die wie
eine Wanze zerdrükte
Kalmükennase bemerkt) — etwas mikrologisches
an, was ich gern zum Sohne des
Talmuds und der Masora Dürftig ists doch, wenn der
Masoreth aufsummiert, wie oft z. B. א vor
kömmt, nämlich 42377 mal, oder daß ר im 3 B. Mos. XI, 42. im Wort גחֹון der
mittelste Buchstab im Pentateuch ist oder daß
blos im Jerem. XXI, 7. 42 Wörter
vorkommen.
machen
möchte, wenn es nicht der Vater
beider wäre. — In der Kabbala ist
mehr Philosophie, (in Dichtkunst vererzt,) als in jenen
beiden.
Alles was wir körperlich oder äusserlich vor dem Unendlichen thun,
kurz was nicht Gedanke ist, also
alles laute Beten, Knien, Hände
falten, ist Zeremonie, nicht Tugend (obwol Aeusserung der
Tugend)
und alles das könte eben so gut im
Gegentheil bestehen: es wäre eben
so from, wenn ich beim
Beten aufstände als niederfiele,
den Kopf
bedekte (wie die Römer) als entblöste. Also folgt daraus gegen alle
Zeremonien — nicht das Geringste. Wir armen vom
Fleisch-Panzer
umklammerten Menschen, wir öden in die
scharfen Ketten des Körpers
geworfnen Seelen, wir
müssen, wenn unser edles Ich seine Flügel auf
schlägt, diese innere Bewegung durch eine äussere unsers
Gehäuses
offenbaren. Wie? ist denn z. B. die geringste
Aehnlichkeit, das geringste
Verhältnis zwischen dem Druk der
Hand oder der Lippe und zwischen dem
liebenden heissen
Gefühle, das mit jenem Druk schmerzhaft-süs aus
seinem Kerker an den andern Leibes-Kerker der geliebten Seele klopft?
Wenn ich vol Liebe meine Arme um die geliebte Gestalt
herumlege: ist
denn da zwischen diesem Zeichen und der
bezeichneten Sache die mindeste
Aehnlichkeit, da oft der
Grol eben so gut umfasset, um zu erwürgen?
— Könte das
Schütteln des Kopfes, das bei allen Völkern Nein be
deutet, nicht eben so gut ein Ja anzeigen? Also da unsere beklommene
Seele keine Zunge und keine Farbe für ihre Bilder hat: so verschmähe
niemand die Farben, die sie im Drange der Empfindung
ergreift. O der
arme Mensch! kan, wenn er auch den ganzen
Tag darüber philoso
phieret hat, dieser
kan wenn er draussen vor der untersinkenden Sonne
steht, die milde und gros zur anderen Halbkugel hinunterzieht und die
der unsrigen an den Blüten und Bergen die Gesundheitsröthe
eines
sanft erwärmten Tages nachlässet, und wenn er als
ein Wunder unter
Wundern steht, als ein Glüklicher unter
Glüklichen, als ein ewiger Geist
unter den ewigen Körpern um
ihn her, dieser Mensch kan abends, wenn
er endlich in
den Himmel, aus dem die Sonne gesunken ist, aufblikt zum
grossen glimmenden Blau, in dem entflogne Funken des Thrones eines
Ewigen schillern, dieser mus, von der Algewalt der Schöpfung
nieder
gedrükt, auf die schwachen
Menschenkniee stürzen und beten: „du Un
„endlicher, dein Geschöpf sinket zusammen, wenn du erscheinest, ach ich
„werfe gerne dieses Angesicht aus Erde, dieses Herz
aus Erde auf deine
„Erde nieder, denn ich wil dir nicht
danken, sondern nur zertrümmert
„und brennend und
verstummend reden.“ — O jedes Zeichen der An
dacht ist ehrwürdig, unter jedem Volk — wir haben alle
dasselbe Herz
und denselben Gott, und unsere kleinen
Verschiedenheiten sind gewislich
diesem ewigen Geiste nur —
Aehnlichkeiten.
— — Ich habe mich in Flammen geschrieben über Dinge, wo ich
stat Zeilen Bogen brauchte, wie über mehrere Dinge Ihres
lieblichen
Briefes. Leben Sie wol, liebe tugendhafte
Seele! — Ich werde jezt zu
unserer sanften Freundin
R[enate] gehen und sie fragen: „sol
ich denn
„keinen Grus von Ihnen an unsern Liebling mitschreiben“ und
sie wird
mit froh-schimmernden Augen sagen: „Richter, alle
meine Grüsse sind
„schon in Ihrem Herzen und schicken
Sie sie nur alle hinaus.“ — Und
da sind sie! —
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_102.html)