Von Jean Paul an Christian Otto. Hof, 2. Juni 1796.
Brieftext
Ich gebe dirs heute nach doppeltem Lesen zurük, weil ich dich mitten
aus dem Schreiben ris. Du must mir überhaupt einmal diese
Blätter
entweder mit ihrem Baum oder doch mit ihrem
Zweige wiedergeben,
wenn ich etwas anders als es blos loben
sol. Es hört gerade beim
1 Akte und wie ein Roman mit dem
scheinbaren Tode des Helden auf.
Da du den rohen Stof der
Geschichte fallen lässest und nach dieser
Dephlegmazion nur
den Geist extrahierest: so wird die historische
Sukzession 〈Kausalkette〉 in deiner Hand eine psychologische, und du
hältst also den Freund der leztern (mich) und auch den Freund
der
erstern gefangen, der deine abstrakten Gemälde für
Resultate indivi
dueller Züge leichter
erkent als ein Unwissender wie ich, wiewol du
oft feine
Anmerkungen machst, die sich nur aufs Errathen der
Menschennatur gründen können, auf keine fremden Gaben. Am
meisten gefiel mir die Vergleichung zwischen Luther und Loyola, und
des erstern Tod. (Wenn ichs wieder bekomme, wil ich überhaupt
erst
anzeichnen) Jene Vergleichung und das jesuitische
Aktenstük und deine
Unpartheilichkeit sezen den Leser in die Lage, die du anfangs
für so
schwer zu erhalten ausgiebst. Die Geschichte
keiner Sekte kan von
einem Sektierer derselben oder ihrem
Schismatiker geschrieben
werden; daher können wir erst jezt
eine Geschichte der christlichen
Religion schreiben, sobald die leztere in einem gewissen Sin
aufhört.
Und da du kein Lutheraner leider bist: so schwebst
du mit der ächten
Unpartheilichkeit des Dichters über deinen Karakteren, die du
ohne
Rüksicht auf ihren Gehalt aus deinem Spiegel
ungeändert wiedergiebst.
Überal wo du einen Plutarchischen
Pa[ra]llelismus ziehest, gelingt er
dir. — Deine wizigen Anspielungen auf Geschichte, die zugleich
zu
Beispielen werden, wie von Romulus, Achilles, Oedip etc.
häufe so
sehr als du kanst: sie laufen wie
helle Blumenbeete durch die Aehren.
(Blos stat des
Alexander und seiner Generale wäre jede philosophische
Schule besser). Es giebt allem Lebensfarbe, daß du dem
Abstrakten und
Transparentem
[!] zuweilen körperliche sichtbare
Sizstangen giebst,
z. B. die Anmerkung über Wittenberg — der
Brief Erasmus — der
Misbrauch der biblischen Geschichte von den Israeliten.
Ueberhaupt
zitiere fast öfter; auch menge wo es geht, eine benante Zahl unter
unbenante, Anekdoten unter Schlüsse, z. B. am Anfang der 3ten
Lage, wo du die Schismen aus Luthers Tod, im Algemeinen
be
zeichnest. — Dein Styl ist bis auf seine
Antithesen und Gleichnisse
(inclus.) recht gut und du bist Herr über ihn: gleichwol
würd’ ich,
wenn ichs wiederbekomme und es darf, manches
abbrevieren, (z. B.
das Verbrennen des kanonischen Rechts) —
und auch einige Dunkel
heiten und einige
Schlüsse würd’ ich anmerken. — Arbeit also so
kräftig fort und
gieb mir bald ein grosses Stük — und dieses dazu —
und erlöse
mich von dem unaussprechlich peinlichen Gefühle, daß es
niemand weis, was du bist und kanst als — wiewol nicht einmal in
fremden Fächern —
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_326.html)