Von Jean Paul an Charlotte von Kalb. Hof, 11. Juli 1796.

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Brieftext

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[ Hof, 11. Juli 1796 ]

Über die 8 Tage kroch die Zeit mit kahlen nassen Flügeln ohne
Schwungfedern. Ich kan meine Freundin nicht vergessen d. h. nicht
entbehren ... Ich kan es nicht ertragen, ein Herz, das ich gern an
meines fassen möchte, ohne körperliche Form in die ganze trans
parente Masse des Publikums verflossen zu wissen — ich kan keine
anonyme Liebe ertragen — der Titan hat seine Raupenhülse zer
rissen. Nichts macht mich frömmer und milder als ein Fehltrit: ich
hab’ es nicht gewohnt, daß mein innerer Mensch sich eine Wunde
stösset, und eben darum theilt ihm eine Verblutung ein neues sanftes
Leben mit. Die Ferne heiligt die Seele und wärmet das Herz:
... wenn mein Auge wieder in deines sinken darf, wenn ich wieder
aus dem meinigen die Thräne über dein Geschik vergiessen darf, die
aus dem deinigen nicht rint. Ich werde an deinem Geburtstag vor
Sonnenuntergang auf einen Berg treten und nach der Sonne, die
gerade in deine Gefilde niedersinkt, mit vollen Augen blicken und an
dein Leben denken. Schau der fallenden glühenden Welt dan auch
nach und wisse fest, daß ich an dich denke — daß ich die Wolken deiner
beschatteten Tage werde [?] zählen und vorüberfliegen lassen und daß
ich alle deine heissen Schmerzen von neuem beweine. „O (werd’ ich
denken, wenn ich dein wundgeschäältes Herz in der Vergangenheit von
einem Felsen auf den andern geworfen erblicke) o gutes Geschik, gieb
dieser müden Seele nur jezt einmal eine weiche [?] grüne Stätte —
greife nur jezt nicht mehr hart zwischen dieses nur lose wieder zu
sammengeknüpfte Nervengewebe — Bescheer’ ihr Ruhe in ihrer
Brust, einen sanften Lebensweg, den die schimmernden Gletscher der
2ten Welt magisch begränzen, und lauter Menschen, die sie lieben, und
Ruhe und Ruhe.“ — Ich würde beredt sein (am Geburtstag), meine
Zunge würde strömen wie mein Auge und von Wünschen überfliessen und
wenn ich verstummend und beklommen auf die geliebte Hand hinsänke:
so würde doch durch alle diese Ergüsse meine Brust nur voller ge
worden sein und nicht leichter. — Ich Geist, der aus fremden Leibern
nur den Geist auskernt. — Wo flattern die 3 melodischen Grazien,
die 3 Noten von Rousseau? — Es wird Ihr Herz wie ein h. Geist
überschatten, wenn Sie diese Bücher lesen. — Handeln Sie, dan
befriedigt sich Ihre übervolle Seele: die That ist die Zunge des
Herzens.

Textgrundlage

Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 2. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1958.

Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

K: Ostheim 11 July. i 1: Wahrheit 5,143×. i 2: Denkw. 2,24×. B 1: IV. Abt., II, Nr. 119. B 2: IV. Abt., II, Nr. 120. B: IV. Abt., II, Nr. 122? 222,10 verflossen] vielleicht verfliessen oder verflösset 32 beredet 223,4 f. die That ist die Zunge desHerzens] mit Blei gestr. (vgl. I. Abt., VII, 314,35)

222,18 Charlottens Geburtstag war am 25. Juli. 36f. Charlotte hattein B ihre Ansicht von dem Charakter der französischen Mystikerin Guyon entwickelt, deren Memoiren (1720) sie gelesen hatte und dann auf RichtersBitte ihm schickte; Exzerpte daraus im 26. Bande (1796); vgl. 273, 7 , IV. Abt. (Br. anJ. P.), II, Nr. 128 und I. Abt., IX, 270,8, 285,8 (Titan, 111. u. 114. Zykel). 223, 2 Rousseaus berühmte „Air à trois notes“ war ein Bravourstück derCorona Schröter und ein Lieblingslied Jean Pauls; vgl. I. Abt., IX, 533f.Charlotte hatte in B 1 die Anfangsworte zitiert: „Que le temps me durepassé loin de toi.“ diese Bücher: vielleicht die 128, 16f. genannten.

How to cite

Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_356.html)