Von Jean Paul an Caroline Herder. Hof, 12. Juli 1796.
Brieftext
Wenn man aus Ihrer poetischen Welt wieder in die Höfer pro
saische zurükgefallen ist: so wundert man
sich, daß man ein Insas
zweier so unähnlicher Welten sein
können und daß man neben Ihnen,
Verehrungswürdigste,
gesessen und geplaudert hat. Ihre Abende
kolorieren meine
Träume und entfärben meine Tage. Warlich, mein
Kopfkissen ist
für mich der Präsentierteller von Weimar: ich wünsche
Ihrer Wirklichkeit alle Stickerei und Dekorazion meiner
Träume.
Ich hoffe, bis dieses Blat nach Weimar auf trägen Pferden
kömt,
hab’ ich mich in Ihren Augen aus einem Lügenpropheten
in einen
Wetterpropheten umgesezt: denn heute wirft der Himmel
seine schmuzi
gen Wolken unter den
Horizont und ruht in den nächsten Wochen
mit unermeslichen
himmelblauen Schmetterlingsflügeln über Ihnen
beiden, wenn Sie
nach Halberstadt wie ein Tempe-Flus durch lauter
hereingebükte Blumen ziehen. Nehmen Sie in Halberstadt
Ihr Auge
vol Liebe und sehen Sie den guten edlen Gleim lange
an und
sagen: „So möchte Sie, wenn er näher wäre, Jean Paul auch an
sehen!“ —
Wär’ ich das Verhängnis, so macht’ ich eines Ihrer geliebten
Kinder so seelig als es zwischen den Wogen der schwankenden
Sünd
fluth unserer Zeit sein kan, und führt’
es vor Ihr Herz und sagte:
„Das sei dein Lohn für die Abende
und Worte, die du wie Frucht
„guirlanden
um die Tage des glüklichen Jean Paul geschlungen hast!“
Wenn einmal der Hesperus in Ihre
Fenster glänzt: so nehmen Sie
die Hand Ihres grossen
Geliebten und sagen: „schau den andern
erdigtern Hesperus auch an und schreibe fünf Zeilen darüber
nach
Hof!“ — Alle guten Genien mögen Sie heben, tragen, kühlen
und
begleiten! —
Jean Paul Fr. Richter
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_357.html)