Von Jean Paul an Johann Gottfried von Herder. Hof, 12. Juli 1796.

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Brieftext

Hof im Voigtl. d. 12 Jul. 1796 .

Für mich ist jezt die Zeit der mundus patens, worin die Unter
welt, d. h. auf der Erde die Vergangenheit, sich vor meine Augen
heraufhebt: und unter allen diesen Gestalten seh’ ich die gröste zuerst
und zulezt und am längsten — und da ich die Ihrige, verehrungs
würdigster Lehrer, seit 8 Tagen anschaue, so werd’ ich sie doch auch
anreden und Ihnen mit drei Zeilen drei Minuten nehmen dürfen? —


Ihr weiter und voller Kreis verstattet Ihnen kaum das Lesen der
Briefe, geschweige ihr Erwiedern. Ich bitte Sie also um nichts; aber
ich wünsche Ihnen alles mit der gerührtesten Seele, in der je Ihr
Bild gezittert hat. Um die Katarakten unserer Tage sind wie um
andere, Nebel — möge auf den Ihrigen ein Regenbogen sein! —
Möge auf die äussere Welt ein Wiederschein aus Ihrer innern
fallen! — Möge jedes Auge, das sich Ihnen nahet, Sie so freude
trunken anschauen wie meines und möge immer in Ihrer Brust der
Himmel bleiben, der sich in der meinigen aufthat, als ich nach einem
funfzehnjährigen Wunsche endlich an Ihrem so lang geliebten Herzen
hieng!


Ihr
Jean Paul Fr. Richter

Textgrundlage

Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 2. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1958.

Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

H: SBB, Slg. Autogr.: Paul, Jean, Blatt 6-7 ; ehem. Dr. F.C. Witte, Rostock. 4 S. 8°. K: An Herder. i: Wahrheit 5,147. J: Herders Nachlaß Nr. 6 (nach einer Abschrift). A: IV. Abt., II, Nr. 126.

224, 17f. nach einem funfzehnjährigen Wunsche: Herder war imJuli 1791 durch Hof gekommen, ohne daß Richter ihn gesehen hatte;vgl. Bd. I, Nr. 404, 363,20f. und I. Abt., X, 44ff. (Flegeljahre Nr. 7).

How to cite

Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_358.html)