Von Jean Paul an Johann Gottfried von Herder. Hof, 17. August 96.
Brieftext
Ihren fünfbändigen Pentateuch für mich hab’ ich mit eben so viel
Freude wie eine Quinterne, aber mit grösserem Danke aus der
Hand
nicht des Zufals sondern der Güte genommen. Ich send’
Ihnen hier
für die fünf klugen Jungfrauen eben so viele
thörigte; aber ich möchte
Sie wohl bitten, die Blumenstücke und die Belustigungen
früher als
den Abend-Irstern anzuschauen, weil in jenen weniger Manier
ist.
Ihr gedrukter Erlöser hat auch bei mir dem wirklichen nach
geahmet — er hat mich von Irthümern
erlöset. Ich war über diesen
Punkt weniger in der Nacht als
im Nebel, der den Tag blos verbirgt.
Jedes Ihrer Worte ist
zugleich esoterisch und exoterisch, und legt
schonend dem
Irthum einen Sin unter, der ihn aufhebt. Die eine
Parthei hat die evangelische Geschichte zu widersinnigen actis sanc
torum, zu einer Wunder-Faktorei
ohne Zwek und zu einer Götter
geschichte hereingesenkter unfaslicher deorum ex machina
gemacht —
die andere Parthei hat eben darum stat der falschen
Folgerungen die
wahre Geschichte geläugnet und gemishandelt. Sie haben die
Theologie
mit der Philosophie wie ein Mitler vereinigt,
indem Sie den Erlöser
blos zum Protomedikus unserer siechen Seele, und sein Institut
zum
moralischen Clinicum
und aus dem Gott-Menschen einen Menschen
Gottes, aus der
apostolischen Sendung einen höheren und weitern
pythagoräischen Bund machen. Sie haben Himmel und Erde,
die
(nach den Aegyptern) anfangs ineinander lagen, schön
auseinander
geordnet und Jesum zum — zweitenmale Mensch werden lassen,
troz
des Edikts vom 9ten
Jul. Und niemand geb’ ihm wieder die götliche
Schminke, die alle seine edeln Züge bedekt. Über seinen
Irthum sind
Sie sanft 〈S. 243〉 hinübergeeilt, der den nahen
Fal Jerusalems und
der Erde dicht verknüpfte und der die Märtyrer und die Almosen
vermehrte und die baufälligen Tempel
und christlichen Geschichts-
bücher verminderte und der das 10te
Jahrhundert erlebte; aber in
Ihren Briefen an einen Theologen
haben Sie diesen Irthum bei jeder
christlichen Parthei entschuldigt. Ganz neu — im Grunde alles
— ist
das proscholium Johannis S. 53
etc. behandelt, und frappierend die
Versuchung; und himlisch ist der Auszug von Christi
Moralsystem.
Blos über die Wunder hätte man, seiner
eignen Belehrung wegen,
einen dünnern
pythag[oräischen] Vorhang und eine
kleinere disciplina
arcani gewünscht.
Es giebt einen deutschen Schriftsteller, den Sie meines Wissens
kennen, welcher wie die Engel nach den Scholastikern vor
einem
Meere steht, das alle Völker nachspiegelt, und der,
indes wir Indi
viduen schonen und Völker
mishandeln, beide erräth und beschüzt und
der stat jener
Toleranz — deren Name selber eine Intoleranz ist —
etwas
humaneres und höheres predigt und übt, den edlern Anthropo
morphismus eines jeden Menschen,
eines jeden Volks, eines jeden
Säkulums. Wenigstens der
Name dieses Autors solt’ Ihnen bekant
sein: er heisset — J. G. Herder.
— Und so lassen Sie so ferner fort, unaussprechlich Geliebter, mich
an Ihrem Herzen hängen als Freund und an Ihren Lippen als
Leser;
und so lange beide bei mir warm und rege sind, sind
sie es für Sie. Ach
ich ertrüge gern die Qual des Abschieds von
Ihnen, könt’ ich mir damit
die Freude der Ankunft erkaufen!
Fr. Richter
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/II_379.html)