Von Jean Paul an Johann Adam Lorenz von Oerthel. Hof, 28. Juni 1786 bis 30. Juni 1786.

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Brieftext


[ Hof, 28. Juni 1786. Mittwoch ]

Lieber Oerthel,

Du überkomst den Kant so spät, weil ich ihn selbst nicht am Dienstag
vor 8 Tagen, sondern erst am Freitag empfieng. Den Herder ver
sprach der Buchbinder mir auf den morgenden Donnerstag: ich fragte
aber am Dienstag (gestern) schon an und er gab mir ihn — er sagte, es
thäte ganz und gar nichts — brochirt mit; heute (am Mitwoche) schikt’
ich ihm ihn wieder. Du verlierst also durch meine neugierige Voreilig
keit nichts: denn gebunden hätt’ ich ihn länger behalten.

Vor allen Dingen müssen wir aber hören, was Henke vorbringt
und ich wil es nachschreiben und du kanst es nachlesen; ich wil es aber
nicht wünschen, daß seine Feder die ganze Welt in die gröste Unordnung
versezet, so daß kein Mensch hernach mehr weis, woran er denn eigent
lich ist. Henke macht sich nämlich nichts daraus und thut es von freien
Stükken kund, daß es bei iedem Manne selbst stehe, was er im Ernste
zeugen wolle. Denn wenn der besagte Man z. B. einem Knaben das
complementum possibilitatis darzureichen beschlossen habe, so könne
ihm das kein Mensch verbieten: denn was brauch’ er mehr als mitten
unter der Zeugung mit der einen Hand nach dem rechten Testikel zu
fahren und durch eine leichte Hinaufdrükkung ihn zum Ergus der
mänlichen Samenfeuchtigkeit mit leichter Mühe zu vermögen? Der
linke hingegen schiesset — wiewol man etwas ähnliches auch von der
mänlichen Rippe zu behaupten sich getrauet — die Ingredienzien her,
aus denen nach vielem Präpariren mit der Zeit ein Weib erwächst,

dieses Hausmittel unsers spashaften Lebens, dieses angenehme Marg
grafenpulver für die grösten Kinder, die es gar als ein Abführungs
mittel betrachten. / Wider Vermuthen hat mich der Teufel mitten
unter die Metaphern geiagt.


[ 30. Juni ]

Ausser den Metaphern rükten mich auch äussere Unterbrechungen
bis heute (am Freitage) von dem Saze des Henke weg, daß die Samen
feuchtigkeit der rechten Hode einen Knaben, und die der linken ein
Mädgen gebe. Schwerlich wirst du soviele Hunde und Pferde zu sehen
bekommen als Henke zur Prüfung seiner Hypothese abwechselnd um
ihre Hoden brachte. Das Schlimste bei der ganzen Sache ist, daß sie
deinem Glauben an den mänlichen Werth der weiblichen Seelen vielen
Schaden thut; und es kan auch wahrhaftig unmöglich anders aus
fallen. Denn seze dich selber hin und erwäge es, ob man iezt seit der
Henkischen Entdekkung noch mit einigem Grunde auf eine Aus
führung der Damen aus ihrer iezigen babylonischpolitischen Gefangen
schaft wol passen darf, der sie allein unser scheinbares Uebergewicht an
Fähigkeiten schuldzugeben haben und in der sie an ein besonderes
Avancement gar nicht denken dürfen? Aber vor dem Henke konte man
doch auf iene Ausführung noch füglich passen, stat daß wir iezt un
beschreiblich darauf aus sein werden, von Zeit zu Zeit soviele Knaben
in die Welt zu liefern, als wir zur Fortsezung unserer uneingeschränkten
Universalmonarchie für nöthig erachten. Wahrhaftig ich sehe sie schon
an als ob sie aus Christensklaven Negersklaven geworden wären. In
dem Kapitel von der Polygamie, in euerem Lehnrechte, im algemeinen
Staatsrecht und in den Kameralwissenschaften wird — der Henke hat
euch dies alles eingebrokt — alles darunter und drüber gehen; der
König in Preussen wird vor seinem Ende noch von den stehenden
Truppen und auch von den Provinzen stat der Spazenköpfe und Zins
und Deputatthiere im Ernste Knaben haben wollen und die Erzeugung
der Mädgen nur für den Dispensazionsfal aufheben; die Sache wird
zusehends schlimmer; die Theologen mengen sich darein, hinter denen
in einer geringen Entfernung die Mädgenschulmeister ziehen, die ganz
zu verhungern drohen; an die Frauenklöster und -sättel wil ich dich
gar nicht erinnern; kurz die ganze Welt hört gar ihr eigen Wort nicht
mehr, so gehts zu.


Die „Naturwissenschaft“ hat mit der „Kritik“ des Kants keine Ver
bindung und man kan eine ohne die andere lesen. Um die mendel
sohnsche Hofnung, daß Kant eben so gut aufbauen werde als er
niedergerissen, hat er sich gar nicht bekümmert. Er hat zwar ein
Lehrgebäude wieder hergesezt, aber die Mathematik hat es bezogen;
die Metaphysik läuft, (nach seinem Petalismus mit Papier blättern,)
vergeblich schon viele Wochen nach einem Papagai-Bauer, oder auch
Mirakulatorium zu Zürch herum und wil gar in die 12 himlischen
Häuser hinein, wiewol neulich Feder ihr sagen lassen, er halte in
seinem Hause wirklich ein Laboratorium für sie leer. — Die Natur
wissenschaft ist in den meisten Stellen viel leichter als die Kritik, aber
eben so geniemässig.


Ich wolte, ich hätte einen armirten Magneten in Händen, um dich
aus deinem wollüstigen Musenharam [!], in den du dich verschliessest,
glüklich hieher zu schaffen: denn gegenwärtig leb’ ich immer in der
Furcht, daß ich selber nach Töpen gezogen werde, ob ich mich gleich ganz
fest halte.


Richter

Textgrundlage

Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 1. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1956.

Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

H: Berlin JP. 2 S. 4° (undatiert). K (nach Nr. 174): An Oerthel in Töpen den lezten Jun. J: Nachlaß 2,320×. 213,17 (gestern)] nachtr. H 19 wieder ihn H 21214, 36 durchstr. K 28 habe] aus hätte H K 31 Hinaufdrükkung] aus Zusammendrükkung K 214,11 schlimste K 24 ob] aus wenn H 27 euch dies alles] aus euchs allen H 28 in] so K, im H seinem] so K, seinen H 215,7 Papagai-] nachtr. H K 15 hier her K 16 nach] aus auf H gezogen] davor gestr. wieder H

213,15 Herder: vgl. 180,23 †. 21ff. J. Chr. Henke, „Neuentdeckte Geheimnisse in Erzeugung des Menschen, als auch in der willkürlichen Wahl des Geschlechts der Kinder“, Braunschweig 1786. 215, 1 Kants „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft“, Riga 1786. 2–4 Mendelssohn hatte diese Hoffnung in der Vorrede seiner „Morgenstunden“ (s. 194, 20†) ausgesprochen. 8 Mirakulatorium wurde ein Haus in der Nähe von Zürich genannt, in dem unter Lavaters Ägide angeblich Wunder geschahen; vgl. J. J. Hottingers „Sendschreiben“ (1775), S. 26, und Musäus’„Physiognomische Reisen“ 2,93; II. Abt., III, 132,2. 9 Feder: gemeint ist wohl die vom 27. April 1786 datierte Vorrede zum 3. Band der „Untersuchungen über den menschlichen Willen“ (s. 194,19 †).

How to cite

Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/I_176.html)