Von Jean Paul an Renate Wirth. Ohne Ort, 3. Januar 1791.

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Brieftext

Für meine Freundin Renata Wirth
d. 3. Jenn. 1791 [Montag].
Stat eines Neujahr Wunsches.

Ganze Tage und Wochen vergisset man, zwei, drei Minuten daraus
ausgenommen. Ach blieben uns nur von iedem Tage drei solche
nachtönende Minuten zurük: so wäre doch das Leben und der Genus
des Lebens etwas werth! Aber so — sind unsre Stunden kaum würdig
einmal gelebt, geschweige wieder erinnert zu werden.


Um den Nachklang einer schönern Stunde von gestern länger zu
hören — hab’ ich mir diesen Traum gemacht:


Eh’ der Schöpfer die Seele der R—a, mit dem Körper umlaubt,
auf die Erde ziehen hies: traten die zwei Genien vor den Schöpfer,
die verborgen um ieden Menschen fliegen.Viele Völker und noch viele Männer glauben, daß ieden Menschen durch sein ganzes Leben ein guter Geist oder Genius begleite, der ihn zur Tugend zieht, und ein böser, der ihn zum Laster lokt. Der schwarze Genius,
mit seelenmörderischem Auge, mit blauer durchbissener Lippe, mit
verdorten haschenden Fingern, schos gierig und schadenfroh auf die
unverkörperte Seele und sagte: „ich wil sie verführen.“ Die Seele
zitterte in weisser Unschuldsfarbe vor ihm, vor dem Schöpfer und vor
dem guten Genius. Der böse fuhr fort und zeigte in einem Spiegel
40, oder 50 Gesichter, die insgesamt fade, nichtswürdig, schwach und
oft giftig waren. „Diese von Kleinigkeiten lebenden und redenden
„Gesichter wil ich um sie stellen (sagte der schwarze) — sie sol sie so
„lange verachten bis sie sie erträgt und zulezt nachahmt. Ich wil ihr
„mit dem Gefieder der Mode, mit Bändern und Stoffen vorgaukeln
„und sie mir nachlocken, indem ich ihrs gebe, sich damit zu behängen. —
„Wil sie meine Stimme, die in ihrem Innersten zu ihr redet, nicht
„hören: so wil ich mänliche Kehlen nehmen und durch diese zu ihr
„sprechen, sie loben und belügen und verlocken. Ich wil die Gestalten
„von 100 Manspersonen annehmen, damit sie meine schwarze Gestalt
„nicht kenne; und sie sol die Liebe derselben mehr erregen als erwiedern
„wollen. Selbst das Gute, das sie doch thun wird, sol sie, nicht weil es
„gut ist thun sondern weil sie damit gefället. Und damit ich ihr alles
„erleichtere: wil ich ihr helfen, sich in eine so gute Gestalt zu verstellen
„als ich mich verstelle und ich wil ihr die Minen und Worte diktieren,
„um sich und mich zu verbergen — — und in ihrem Alter....“ Aber
der gute Genius umarmte die Seele und kniete nieder vor dem Schöpfer
und sagte zu ihm: „ich wil sie beschüzen. Umblüme und bekränze die
„schöne Seele mit einem schönen Körper: unbesudelt sol einmal diese
„Hülle von ihr fallen — gieb ihr ein grosses Auge: die Falschheit sol
„es nicht verdrehen — leg’ ein weiches Herz in ihren Busen: es sol
„nicht zerfallen eh’ es für die Natur und Tugend geschlagen. Ich wil
„dir diese Seele verschönert und entknospet aus der Erde zurük
„führen. In den Schimmer des Mondes, in den Zauber einer Früh
„lingsnacht wil ich mich verwandeln und mit Seufzern sanfter
„Wehmuth ihren Busen heben. In dem Getöne der Musik wil ich sie
„rufen und von deinem Himmel mit ihr reden. Die Stimme ihrer
„Mutter oder einer Freundin wil ich borgen und damit sie an mich
„ketten. Und oft im einsamen Dunkel wil ich um sie schweben und
„durch eine Thräne, mit der ich ihr Auge verschönere, ihr das Zeichen
„geben, daß ich sie umarme und daß sie noch meine Freundin ist.
„Und hab’ ich sie endlich durch den warmen Tag des Lebens hindurch
„geleitet bis in die Nacht des Alters hin: so sol am Morgen der
„Ewigkeit ihr Schimmer wie morgendlicher Mondschimmer er
„blassen und eine neue Sonne sol sie hier mit einem neuen Paradies
„und einem neuen Morgen anstralen.“


Der gute Genius siegte und sie flogen mit einander auf die Erde
nieder, gehasset und begleitet vom bösen Genius....


O du, für die ich dieses schrieb, denk’ an mich und an dieses Blat —
und wenn einmal meine Stimme, über der Erde entfernt, oder unter
ihr verstumt, nicht mehr zu dir reicht: so höre sie auf diesem Blatte —
und wenn einmal mein fortgewandertes oder ausgemodertes Auge
nicht mehr sieht, ob du glüklich bist: so werde nie unglüklich.


Fried. Richter

Textgrundlage

Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 1. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1956.

Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

H: Berlin acc. ms. 1895. 75 (derzeit BJK). 3½ S. 4°. K: SBB, Nachlass Jean Paul, Fasz. 13b. 3 S. 4°. i 1: Wahrheit 4,279. i 2: Nachlaß 5,165. J: Täglichsbeck S. 20. 317, 20 u. 30 der Name ausradiert K 22 Neujahr] aus Neujahrs H, Neujahrs K 30 Eh’] aus Als K der Schöpfer] aus das Schiksal H 31 vor den Schöpfer] vor ihm [!] K 318, 1 Auge] Blik K 2 haschenden Fingern] fangenden Händen [aus Fingern] K 6 40, oder 50] aus die H 7 giftig] boshaft K 15f. meine schwarze Gestalt nicht kenne] vor meiner schwarzen Gestalt nicht zusammenfahre K 21 um sich und mich zu verbergen] meine und ihre Gestalt zu verhehlen K 22 Seele] davor bebende K 28 verschönert] aufgeblüht K 319,1 in die Nacht des Alters] ins [gestr. kalte] düstre Alter K 2 morgendlicher] nachtr. H, fehlt K Mondschimmer] danach am Morgen K 8.10 einmal] einst K 8 entfernt] davor von dir K

Vgl. Tagebuch: „Neuiahrswunsch für Renata, ihre Rührung bei meinem Wunsch, nie unglüklich zu sein.“ Es ist der Keim zu der Erzählung „Die Mondsfinsternis“ (I.Abt., V, 32—36).

How to cite

Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/I_353.html)