Von Jean Paul an Renate Wirth. Schwarzenbach a. d. Saale, 5. September 1792.
Brieftext
Liebe Renate,
Der Dienstag hat mich kaum von Ihnen weggeschlept; so zieht
mich der Mitwoch schon wieder zu Ihnen hin. Bayreuth und meine
Paar verträumten Minuten darin liegen jezt vom Abendroth der
Erinnerung übergüldet vor mir; und in der Nacht des Lebens
wird
dem Menschen jede Freude, wie im Finstern Fackeln, desto
grösser und
glänzender je weiter sie von ihm rükt.
Gute Renate, ich bin heute zu
ernsthaft. Denn am nämlichen
Montagsmorgen, wo ich in der
Eremitage künstliche Ruinen bestieg und bewunderte, fiel 12
Stunden
von mir das schönste Herz, das noch über diese kothige Erde
gieng, in
ewige Ruinen zusammen — — mein guter Oerthel starb
an Blattern.
Niemand als ich weiß, was in seinem Kopf und Herzen, die nun
auf
immer hier der Sargdeckel und die Töpener Kirche überdekt,
für
Tugenden und Kentnisse und Knospen und Blüten verborgen lagen.
Sehen Sie, so sieht man, eh man 30 Jahre alt ist, die
Lieblinge unsers
Innern einsinken — so steht vor dem
verarmenden Mensch ein Grab
ums andre auf und der Greis
sieht die Sonne blos hinter Todten
hügeln
auf und untergehen. O was schadet es, daß im Alter der
Mensch
mit seinen zertrümmerten Ohren und Augen wenig mehr
empfindet:
er hört und sieht doch die eingegrabnen Vertrauten seiner
Jugendtage nimmer.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/I_408.html)