Von Jean Paul an Caroline Richter. Löbichau, 2. September 1819 bis 3. September 1819.
Brieftext
Meine gute Karoline! Wie will ich Erzählfeind fertig werden
nur mit zwei Tagen? Man lebt sich hier so ins Schloß hinein, daß
noch kein Beispiel vorhanden, daß einer nach 2 Tagen
fortgegangen
wäre. Marheinecke kam (von der Reck geladen) auf 1 Tag
hieher
und sitzt seit 4 Wochen noch da. Gestern saßen 36 Mann
〈Tags
darauf 40〉 an der Mittagtafel. So lagern hier
Kurländer und
Berliner 〈unter letzten 3 adeliche Studenten〉, —
Feuerbach, Schink,
Grafen nesterweise etc.etc., sogar der hallische
Buchhändler Eberhard
mit seiner dicken Frau saß gestern mit daran.
Viele sind der Reck
Geladne. In Gera holte mich die
Ende und Chassepot und Mar
heinecke ab. Meine Begleiter
hatten während meines Anzugs einen
gutmüthigen Sturm über das späte Ankommen (um 10 Uhr)
aus
zustehen, da man schon um 8 auf
sie rechnete. Die 3 Säle waren voll.
Noch abends
sang die Fürstin von Hohenzollern mit einer Oper
stimme aus dem Tancred. — Ich habe
unter den Nichtfürstlichen die
zwei besten ZimmerDie Reck
hatte sie vorher gehabt.
— dicht neben den Endeschen. Für die
kleinsten
Bequemlichkeiten, an die man gar nicht denkt, ist mit
Aufwand ge
sorgt. Nur die seidne
Wirthschaft jagt’ ich aus meinem Bette. —
Alle
Treppen des Schlosses sind mit englischen Fußteppichen belegt,
und die Säle und Zimmer der Herzogin so weich wattiert,
daß ich
darauf schlafen könnte. Das Essen ist ganz nach guter
altbürgerlicher
Sitte; um 12 oder 12½ wird zu Mittag
gespeiset, fast lauter warme
Gerichte, wenn ich den
Kuchen ausnehme. Das Abendessen ist schon
nach 6
Uhr, hat aber einige Gerichte mehr (und alle sind trefflich)
und dabei den Schaugerichtaufsatz, ders am meisten vom
Diner
unterscheidet; erst nach der Abendtafel wird um 8½ Uhr
Kaffee
getrunken, und um 10 Uhr Thee. Nach 12 Uhr
denkt man schon
ans Bett. Mein Magen fügte sich bei
einiger MäßigkeitIch merke, das hiesige bestimmte Leben
greift den Körper nicht so an als
das
Stuttgarter und Frankfurter.
gestern
recht gut in diesen alten
Bürgerbrauch. Ich kenne keine größere
Freiheit als hier
unter diesem italienischen Dache wohnt. Wäh
rend des fürstlichen Singens im 1
Saale, hatten andere junge Leute
ihre lauten Spiele in einem 3ten. An keiner Fürstentafel ist solche
Freiheit.
Auch sind alle nöthigen Sekten da, Magnetisten und Gegen
magnetisten, Ultras, Konstituzionelle,
Feindinnen und Freundinnen
der neuesten Zeit, Gegenjuden und ein Paar Juden,
worunter ich
gehöre. — Die Herzogin mag ich gar nicht anfangen zu
loben, so
köstlich ist ihr Herz mit seiner Ruhe,
Unbefangenheit, Liebe und
Milde, Gefallsuchtlosigkeit und
seinem Gottessinne. Weit zieh’
ich sie von dieser Seite
der Stuttgarter vor. Auch ist sie mit oder
nach der Chassepot trotz der
Jahre die schönste unter allen hier;
und die Bomhard hatte über ihre Herzogin von Sagan nicht ganz
Recht, so sehr man auch diese und alle Töchter
lieben muß. Nie hab
ich ein schöneres und liebevolleres
Küssen gesehen als das der Töchter
mit der Mutter. Gestern abends um 9 besucht’ ich kurz
nach der
Mittagtafel zum ersten male die Rek, die auf ihrem Kanapée
lag
von ihren lieblichen (17, 15jährigen) Pflegetöchtern
umspielt. Jetzo
lieb’ ich sie auch herzlich als den letzten
Schlußbogen am schönsten
weiblichen Liebe- und
Familienzirkel. —
Ich sitze stets neben der Herzogin und einer Tochter. Da letzte
gestern fehlte und ich ihr mit dem linken tauben Ohre zur Rechten
saß und Feuerbach
mit seinem rechten tauben ihr zur Linken: so
macht’ ich mir die Freude, daß wir beide die
Plätze und Ohren wech
selten unter dem
Essen, um besser zu hören. Es war hübsch. — Hab’
ich denn
auch einen blauen Rock? Ich dachte anfangs, er gehöre
Max; und der Himmel gebe, daß ihr seinen nicht
eingepackt.
Gestern Nachmittags empfing ich in Tannefeld deinen herrlichen
Brief der Liebe und Güte, der mir mitten unter den vier
erfreuenden
Wesen doch noch eine größere Freude brachte als ich
schon hatte.
Wie hätt’ ich zum Kutscher von 3 Wochen
sprechen können! Freilich
verrieselt hier die Zeit völlig
unmerkbar und in ihrem Stundenglase
muß sie den
feinsten durchsichtigsten Sand haben, weil man ihn nicht
laufen sieht und hört. Man ist ganz frei wie zu Hause und drückt
niemanden als Gast und so verfliegen die Tage wie zu
Hause. Hätt
ich dich und die Kinder mit („warum haben Sie
die Emma, die
Carolina nicht mitgebracht?“ hört’ ich mehrmals): so
blieb ich ein
Jahr da. Ein D.
Krotschke aus Mietau sitzt mit 2 Töchtern und
1 Frau unter dem hiesigen Dache. — Schreibe mir daher
bestimmt
den Tag des Empfangs meines Briefes und den des Abgangs
von
deinem: damit ich alles wegen des langen Hin- und
Herschreibens
berechnen kann für die Bestellung des
Kutschers. Denn die herrliche
Frau kann unmöglich an einen hin und her gehenden
Extrapostwagen
denken. — Mir wartet niemand
besonders auf als der Bediente der
Ende und die Bettmacherin; höchstens bringt mir einer das
Bier,
das vierfaches heißt und stärker als das baireuter ist.
Frage nur
Otto, wie viel ich zu geben habe und ob dem so genannten
Kastellan
etwas. Von Hof bis Löbigau hab ich so viel ausgegeben wie von
meiner Stube bis in den Garten. — Grüße Otto und Emanuel
von mir und Tiedge, der ihnen
sein Testament, nämlich die 6te Auflage
der Urania durch mich zusenden will. — Die Seidenhosen
liegen noch
trefflich eingepackt und bleibens. — Um 10 Uhr muß der
Brief fort
und ich habe dir noch das Wenigste gesagt. Man
sieht sich hier —
wenigstens ich, da ich mir am
Vormittag etwas ersparen will —
fast nur in allgemeiner
Menge, obwol in Gruppen, und dieß dauert
von 12 Uhr bis
12 Uhr, wiewol ich mir doch ein Paar Stunden
dazwischen
herausschneide. Das Abendessen nach 6 Uhr halb bei
Tage
halb bei Lichtern an der übervollen Tafel (denn es wird
meistens noch eine Nebentafel beigeschoben) hat etwas
Roman
tisches und mir ist bisher
alles, sogar das Bettgehen um 12 Uhr, gut
bekommen.
Gestern war der Abend himmlisch, mit Tönen gefüllt
— ein
Violin- und ein großer Klavierspieler — die singende Herzogin
〈die Tochter〉 mit einer NN und
endlich ein Loblied auf die Herzogin
〈die Mutter〉, das wir alle sangen, wiewol ich von
mir selber nichts
hörte. — Ein lieblicheres, mehr
italienisches, heiteres Landgut kann
ich mir nicht vorbilden als das in Tannefeld. Gäbe nur
Gott einen
bessern Himmel! — Gelesen hab’ ich noch wenig,
gearbeitet noch
nichts. — Wenn der September sich nicht
morgen ändert: so kommt
ein früher Winter und dann
der Teufel und seine Großmutter. Ich
will daher noch ein
Bischen froh sein. Grüße alle meine lieben
Kinderlein und
Odilie soll ja ihren Vater liebhaben und mit dir
zu
seiner Freude französisch sprechen. Schreibe recht viel
und bald, du
liebe liebe Seele! Könnt’ ich nur dieses Leben mit dir
theilen, du
solltest das größte Stück
bekommen.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/VII_569.html)