Von Jean Paul an Christian Otto. Nürnberg, 12. Juni 1812 bis 17. Juni 1812.

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Brieftext


Nürnberg d. 12. Jun. 1812 [Freitag]

Guten Abend, lieber Alter! Ich will endlich aus meiner stillen
Einsamkeit in deine hinein schreiben. — Wäre schönes Wetter und
die schöne Natur näher: so fehlte mir bei meinen guten Hausleuten
und bei so vielen Nürnberger Lesern nicht viel von Erlangen.
Über Jacobi wirst du am liebsten hören wollen. So oft wir auch
beisammen waren, so haben wir doch kaum auszureden angefangen;
und die ewigen Gespräche über Philosophie — welche aber seltener
Streitigkeiten als Mittheilungen und weitere Auseinanderwicklungen
waren — ließen mir zu vielen Fragen über sein Leben, seine frühern
Bekanntschaften gar keinen Raum. Er sucht wirklich mit reinem
warmen Eifer unausgesetzt nur die Wahrheit. Sein Buch über
Realismus hat er mir für den neuen Druck zu Anmerkungen da
gelassen. Den neuen 1ten Band seiner Werke bring’ ich mit. — Er
will mich durchaus nach München haben zum Durchsehen und
Ordnen seiner Papiere, deren er mir mehrere gab, welchen zum
Drucke wenig an Stil und — Handschrift fehlt; (so ruhig und gleich
förmig ist auch letztere, wie sein ganzes Benehmen, Reden und sein
sanfter edler Sprachton). Schon in der ersten Viertelstunde mußt’
er meinen Sprüngen zwischen Ernst und Scherz zuschauen; und als
ich es halb entschuldigte, sagten die Schwestern, er thue selber oft
deßgleichen. Übrigens scheint er mir doch nicht den rechten Sinn
für Scherz zu haben, daher er sich Katzenberger und Fibel nicht
hinaus vorlesen lassen (— freilich von den armen Schwestern; und
ich billigte es selber und rieth ihnen, solche Sachen, wenn es zu
machen wäre, anstatt mit ihren Lippen vorzutragen, ihm lieber
auf einer Kempelischen Sprachmaschine vorzuspielen). Zuweilen
nimmt ihm das Alter die Fortsetzung einer Idee; auch klagt er,
daß er sprechend jetzt nicht Herr genug über seine Darstellungen sei,
was ich aber nicht fand — Er hat überall Ruhe, nicht Kälte; kann
daher so leicht Feinde ansprechen, anhören und befriedigen als ich
schwer. Es bleibt die Vormitternacht mir rührend, wo wir allein,
er mit dem Schatten des Lichtschirms auf dem Gesichte, leise über
das Wichtigste sprachen. — Und doch — höre! — er sollte meinem
erdigen Herzball einen neuen Stoß zur Bewegung um die höhere
Sonne geben und mich heiligen und mir soviel sein wie Herder,
ja mehr als Herder — er war beides nicht und meine frömmsten
Wünsche für mich können leider nun von niemand weiter erfüllt
werden als von mir selber. — „Hab’ ich nur ihn gesehen, hatt’
ich bisher gedacht, so werd’ ich ein neuer Mensch und begehre weiter
keinen edel-berühmten Mann mehr zu sehen.“ Ach! —


— Er sieht ganz gesund aus (wie auch sein Paß besagt) und
ißt mehr und trinkt so viel als ich und kann und thut vom morgen
an bis Vormitternacht in Einem fort unter Menschen, Genüssen
und auf Häuser- oder Visitenreisen sein. Ich blieb zu seiner Ver
wunderung meiner alten Regel treu, mitten aus der wärmsten Ge
sellschaft in meine kühle Einsamkeit zu laufen, um mich vom Erholen
zu erholen; z. B. aus der vollen Männer- und Weibergesellschaft
bei Merkel nach einem überreichen Gastmal (er hat 5 Häuser).

d. 13 J.

Und mein von vielen Reden der Menschen angefachtes Sprech
feuer — und D. Erhard, der einmal gegen Herder und mich ge
schriebenIch präsentierte mich ihm so: „Sie haben einmal den Teufel gelobt (im
Niethammerschen Journal ein Aufsatz für dessen Existenz) — Le voilà !
und dessen Materialismus ich jetzt bekämpfte — machten
es auch rathsam. Als ich Jacobi — es kommt seine Kehrseite —
fragte, ob ichs mit meiner Freiheit etc. etc. nicht übertriebe: bejahte
ers halb und doch nur so, daß ich keinen Nutzen von der Frage
hatte. Überall sieht er zu sehr und zu ängstlich auf seine Erscheinung
und Darstellung vor andern und wagt gar nichts; so wie er schon
früher meine Frage verneinte, ob ich öffentlich in der Dedikazion
des Clavis an ihn sagen dürfte, er habe sie vor dem Drucke gelesen.
Alle Rezensionen seines und Schellings Buchs führte er — sogar
die Anzeige in der Hamburger Zeitung — in einzelne Blätter sauber
eingewickelt bei sich. (Im Vorbeigehen! In allen, sogar von
Kantianern wird er gelobt und sogar seine juristische Unschuld ge
zeigt. Schelling verliert mit Recht. „Er ist dein 2ter Aretin, sagt’
ich, und hat deiner Philosophie blos zum Verbreiten genützt.“) —
Nachdem in Erlangen die Professoren und wir alle seine Gesundheit
getrunken hatten: stand er auf und ging zu einiger Verwunderung
mit seinem Glase bei allen Trinkern herum und stieß auf ihre an. —
Etwas gehört dem Alter und den 4 weiblichen Händen an, die ihn
tragen und wiegen. Er trägt schöne neumodisch herabgeschlagne
weißglatte Stiefel und Hosen von gutem Nanking und den jetzigen
grauen Russen-Hut (wahrscheinlich auch der Augen wegen). Als
am 1ten Morgen ein schwarzer Halbzirkel von Seebeck, Hegel,
Niemeier, Schweigger
ihn umsaß: hielten er und seine Schwestern
vor uns ernsten Auskultanten einen ⅛ stündigen Rath, ob er und
beide entweder um 3 oder um 3½ Uhr dahin oder dorthin gehen
müssen und wie alles gut zu arrangieren wäre. — Daß er mich liebt,
weiß ich aus seinem jedesmaligen Abschiednehmen und aus der
Liebe seiner Schwestern, und aus den sanften Vorwürfen, wenn
ich in den Intervallen seines Zuhauseseins nicht kam; aber wie viel
er an mir mit Recht und Unrecht tadelt, weiß ich nicht. Er spricht
ziemlich oft von seinen Werken; über meine persönlichen, mensch
lichen und frühern und schreibenden Verhältnisse hat er keine Frage
gethanDoch war auch die Überfülle des Redestoffs mit schuld; so wurde fast
nichts über die Welthändel und nicht genug über Haman, Goethe und Klopstock
(und dieß nur auf meine Fragen) gesprochen.
. — Im Politischen ist er ziemlich freimüthig. Das Übrige
mündlich.


Schrag ist recht dienstfertig gegen mich. Die Klage über die
norddeutsche Büchersperre ist übertrieben; an Perthes allein ver
kaufte er 80 Fibel, und so nach Verhältnis in Bremen etc. etc. — Der
köstliche Schwabe, Medizinal D. von Hoven Durch mehrere Werke und sein neuestes über die Fieber berühmt und
heute von mir rein geachtet.
35 , ein Freund von
Kindheit auf von Schiller und Thürheim, erklärte mir des letztern
jetzt schuldloses Betragen gegen mich und er will ihn détromper;
davon mündlich! — Wechsle mit Emanuel Briefe, nämlich meine;
da ich nichts 2 mal erzähle. Gib diesen auch meiner Frau, da ich
doch genug noch mündlich zu sagen habe; und Emanuel thue des
gleichen.


Mitwochs Morgen [17. Jun.]

Lebe wol! Auf meinen Simultanbrief hab’ ich noch keine einzige
Antwort, geschweige zwei —

Textgrundlage

Jean Pauls Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe. Dritte Abteilung, Band 6. Hrsg. v. Eduard Berend. Berlin: Akademieverlag, 1952.

Kommentar (der gedruckten Ausgabe)

H: Berlin JP. 3 S. 4°. K: Otto 12 Jun. J 1: Wahrheit 7, 276× (danach Nerrlich Nr. 136). J 2: Otto 4, 197×. 271,28 auszureden] aus zu reden H 33 Eifer] davor gestr. steten H 272,12 vorlesen] aus lesen H 14 anstatt] statt K 19 Feinde] aus mit Feinden reden und H 20 die Vormitternacht] aus der Abend H 24 soviel sein wie Herder] aus das sein H 27f. hatt’ ich bisher gedacht] aus sagt’ ich bisher H 29 edel-] nachtr. H 31 und thut] aus oder will H 273,7 Frage] aus Sache H 12 führte] aus hatt’ H 18 Nachdem] aus Als H 21f. die ihn tragen und wiegen] aus auf denen er getragen und gewiegt wird H 24 wahrscheinlich] aus vielleicht aus doch H 27f. er und beide] aus man H 32 Intervallen] davor gestr. Morgen- H 274,6 Medizinal] aus Kreisrath H Hoven] aus Hofen H 7 des letztern] aus dessen H

271, 33 f. Buch über Realismus: „David Hume“ (1787); vgl. 289, 13f. 272, 35f. vom Erholen zu erholen: vgl. I. Abt., XI, 164, 34†. 37 Merkel, Paul Wolfgang (1756—1820), Nürnberger Kaufmann und Markthelfer. 273, 3 Erhard: vgl. Bd. III, Nr. 393, und I. Abt., IX, 493, 17†. 10f. Dedikazion des Clavis: vgl. Bd. III, Nr. 391, IV. Abt., IX, Nr. 1.9 und I. Abt., VIII, Einl. S. CI. 16 Aretin: vgl. 123, 13†. 274, 6 Hoven: vgl. zu Nr. 581; seine „Praktische Fieberlehre“ erschien Nürnberg 1810. 7 Thürheim: vgl. Nr. 380†. 14 Simultanbrief: Nr. 648.

How to cite

Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/VI_650.html)