Von Jean Paul an Friedrich Heinrich Jacobi. Bayreuth, 21. Januar 1806 bis 6. März 1806.
Brieftext
Dieses Datum, alter guter Heinrich, hatt’ ich hingeschrieben an
dich und den ganzen Brief mir ausgesonnen, als einige Tage darauf
(den 24ten nämlich) deiner kam.
Nichts labt mehr als dieses Bewußtsein, daß man entgegen
gegangen. — Der deinige, liebreiche,
fried-liebende und -gebende hat
mich, als Antwort auf meinen
wilden, recht erquickt; und deinem
Herzen sei meines ein
Dank, du Sanfter.
Ich rathe jungen Leuten immer Verlieben durch Briefe ab —
welche weit mehr täuschen
als Bücher über den Autor —; allein
Befreunden durch Briefe geht leichter; nur daß man
darin
(nämlich ich z. B. bei Herder) nach dem Sehen
tausend Sachen klüger
schreibt.
Im Frühling muß ich dich haben an mir. Die Einschränkungen
deiner Gastfreundlichkeit verschieb’ ich, bis der politische und der
gemeine Himmel wolkenloser sind; denn noch immer gibts
jetzt
stärkere Wünsche als Hoffnungen.
Das Wunder unserer Landsmannschaft könnte wol nur ein
neuer Kriegszug thun.
Du mußt in deiner Lebensordnung gewaltige Sünden begehen, wenn
ein solcher Winter — der recht für ein zerdachtes und
zerlesenes Nerven
system gesendet war —
dir nicht die Dienste eines Herbstes that; und
da ich mich
und meine 3 Kinder in ewiger Gesundheit erhalten: so
werd’ ich schon künftig dir sagen können, wo du mehr
sündigst als ich.
Meine ErziehungslehreApropos: noch wank’ ich unter
Verlegern umher; frage doch v. Aretin, ob
der Verleger der Aurora, der an
mich längst geschrieben und mir die Zeitschrift ge
schenkt, buchhändlerisch gut
ist.
geht vom Allgemeinsten (Geist der
Zeit, Bildung für Religion etc.) bis zum Bestimmtesten
(Spiele der
Kinder etc.) herab. Deine Stelle
„Länderwanderungen“ traf mich
gerade als ich schrieb: § 2.
„ähnlich der Zeit der Völkerwanderungen
rüstet sich unsere zu
Geister- und Staatenwanderungen.“
Ich lese eben wieder Demosthenes contra Philippum und bin
so
sehr demosth. Meinung als ein Deutscher nur kann oder soll.
—
Mein Trost ist, daß Ph. keinen
Alexander zeugt.
Köppens dritten Brief hab’ ich gelesen — so wie Bouterwek er
rathen — mit dem Wunsche, ein Heer
solcher Gegner zu haben:
Himmel, wie müßte dieß bilden!
Zuletzt — den 3 März — werf’ ich mir mein Parzial-Schweigen
so sehr vor als mein ganzes; aber der Teufel hat seine
Freude, Ab
sätze und Datums in meine
Briefe zu spielen.
Der Krieg will wieder sein Höllenfeuer speien. Aber eh’ ich un
bewehrt zuschaue der Entwaffnung des Germanismus: zieh’
ich
wenigstens während des ehrlosen Jammers davon. Ich bitte
auf
diesen Fall deine guten Schwestern — die gewis
eiliger schreiben und
rathen als du — mir zu sagen, ob man in München leicht 2
möblierte,
von einander entfernte Zimmer sammt Kabinette-Anhang
bekom
men kann für ½ Jahr in
Vorstädten. Für den Frieden hab’ ich wirk
lich keine politische Hoffnung, aber doch eine ganz andere feste, die sich
auf einen bisher bis zum Prophezeien ausreichenden
Boden bauete.
Gestern hast du mich wieder innig überIch hatte eben in
meinem Werke geschrieben: das Sein Gottes bezweifeln oder
läugnen, hieße die Existenz der ExistenzHast du in
dir schon das närrische unmögliche Gefühl beobachtet dabei, wenn man sich denkt, daß keine Existenz existiere, keine Welt
und nichts? und doch außer, hinter dem Nichts die Sache sein
müsse? bezweifeln etc. Gott gestärkt in deinem
2ten Taschenbuche. Du bist neben
Haman der einzige neuere Philo
soph, den ich mir unaufhörlich und immer
so neu zulese, daß ich
nicht begreife, warum mir das neue
Neue kein Altes ist. So las ich
deine erste Polemik
in 1ter Auflage gegen Moses Mendelssohn.
Himmel, wie knechtisch diente damals die philosophische
Literatur
und wie frei und kühn griffest du durch und
vor. Aergere dich daher
nicht, daß man dich jetzt — nur
gegen andere Gegner anders —
nachahmet und auf der Bahn
rennt, deren Schnee du geschmolzen:
sondern freue
dich wie Epaminondas einer (wenn auch oft zügellosen)
Freiheit, die du in den Corso
losgelassen.
Da du mir so oft neu wirst — du steckst, nicht säest dein Korn in
mich — mir, der ich dich nach Worten, wie den guten Haufen
nach
Seiten lese — daß du folglich zuweilen dunkel sein
mußt (ausge
nommen den langen Aufsatz
gegen Kants Kritik): so errath’ ichIch hört’ es auch;
nur die neuere Fichtische und Schellingsche Schule könnte
dich, wäre sie frömmer, mit dem Kopfe mehr verstehen; aber der ältern und der kritischen bleibst du so leer 〈dunkel〉 wie die Nacht voll
Sonnen.,
wie viel andern gut meinenden Seelen entrinnt; und der
wäre
wirklich ein Wolthäter der fromm und zu Zwecken
philosophierenden
Menschheit, welcher dein reines Real-
und Idealsystem in gemeiner
Sprache vor die gemeine
Anschauung in systematischen Ketten führte
und zöge aus
deinen kleinen und größern und polemischen Werken;
Köppen z. B. — Aber wie konnte dieser mir einen solchen
Ver
nichtungs-Krieg zweier Meinungen
in die Seele
verlegen? Hab’ ich denn so wenig Konsequenz und Besonnenheit, daß
ich im Raume einer Vorrede (der Vorschule) aus 2
entgegen
gesetzten Kanzeln predigen kann? Was ich
am deutlichsten aus
gesprochen,
durch Worte und Leben (denn langes Schreiben gilt
Leben
gleich), aus diesem sollte er sich das Dunkle erklären, nicht
durch dieses jenes verfinstern. In mir ist ein unwandelbarer Ernst;
wie könnt’ ich sonst ewig an deinen und andern Werken so
hangen? —
Der „Scherz“ begehrt freilich die ganze Lehr- und
Lern-Welt, aber
nur als Ingredienz, nicht als Ziel.
Ohne Ernst kenn’ ich keinen
Scherz, aber Ernst ohne Scherz
ist denkbar und sogar ursprünglich. —
Die ganze Auflösung
der Charade oder des Chronodistichons —
wenn ich eines bin —
ist die schon unter 1000 Räthsel gesetzte, daß
mich eben der
höhere Sinn ergreift, er mag sonst wörtlich gegen
meinen aussprechen was er will, und daß ich mich der theilweisen
Wahrheit von allen Seiten offen halte, weil mein Ich kein
Tempel,
Altar oder gar Repräsentant 〈Vicegott〉 der
himmlischen Wahrheit
sein kann. Eine erbärmlichere Erde gäb’
es doch wahrlich nicht als
eine, worauf nur 5 oder 6 Leute
Recht hätten; — wozu denn die
andern? Wozu
Wiederscheine des Wiederscheins Gottes? — Du
richtest mich
selber nach meiner Regel; darum schreib’ ich so hin.
Die
Kern-Punkte des Streits brauchen aber eine mündliche Zeit.
Ich wollte, Bouterwek und Köppen
hätten sich dialektisch mehr auf
einzelne Punkte, z. B. des Humors etc., eingelassen. Beide
Männer
aber und ihre Urtheile halt’ ich für
subjektiv-unparteiisch; mich
aber auch. — Gott schenke mir
nur einen mündlichen Nachmittag
mit dir; dann nehm’ ich das
corpus delicti (die Vorschule) als ein
spiritus rector in die Hand und entschuldige mich über
10,000 Sachen.
Denn ich bleibe dabei, daß, wie es 4
letzte, so 4 erste Dinge gebe:
Schönheit (Kunst), Wahrheit,
Sittlichkeit, Seeligkeit, und daß die
Synthese davon nicht
nur nothwendig, sondern auch schon gegeben
sei, nur aber (und
darum ists eben eine) in untheilbarer unfaßbarer
geistig-organischer Einheit, — eine Heilands-Einheit, ohne welche
wir an diesen 4 Evangelisten oder Welttheilen gar
kein Ver
ständniß und keinen Uebergang finden
könnten. — Danke Gott, daß
ich nicht für den Druck schreibe
— zu welchen metaphorischen
arithmetischen Ausspinnungen
müßt’ ich dieses Tetragrammaton —
Tetrachord — etc. führen!
— Dieß ist eben die ewige Entzweiung
〈Endlichkeit〉 in
uns, daß wir ein ewiges Eins suchen, und dann doch
wieder
die Zwei und darin das Eins u. s.
Gott gebe, daß ich heute meinen Brief schließe, damit er nur geht.
Seit der Gewißheit deines Anblicks wird mir jede Briefzeile
sauer
wegen größerer Hoffnungen. „Wozu Post, Postpapier,
Dinte
„und Briefstil, wenn man für den Frühling
ein Kanapee vor der
„Nase hat, nämlich deine neben seiner?“
— so denkt man.
Beim Himmel, ich wollte dir die tiefsinnigsten Sachen noch
schreiben — denn ich hatte mir die Zeichen dazu in meine Kladde
gemacht —; z. B. auch über Schleiermachers herrlichen III. Band
des Platon — deßgleichen über meine Erziehungslehre,
die vom
Allgemeinsten bis ins Bestimmteste sich herab einkörpert —;
aber
wie gesagt, München und du, die ich beide noch nicht
gesehen, halten
mich durchs Hoffen ab. — Aus Furcht, einen neuen Halbbogen
und
Datum anzufügen, schließ’ ich lieber früher, als ich
etwas gesagt.
Ich grüße innig dich und Deinige. Meine
3 Kinder und Mutter und
Vater blühen herrlich, doch jene am üppigsten.
J. P. Fr. Richter
N. S. Mache doch einmal das cito
citissime zur Aufschrift
deines Briefes
nicht sowol als zur Inschrift.
How to cite
Jean Paul - Sämtliche Briefe (statisch), herausgegeben von Hanna und Ronja, LaLe 2025 (https://acdh-tool-gallery.github.io/jean-paul-briefe-static/V_199.html)